2001 Mrz

Über die Versteigerung

der Sammlung André Bretons berichtet die SZ am 31.3.


„stimmschlund, sibylle“

Nicolai Kobus, einer der intelligentesten Vertreter seiner Zunft, versuchte sich in einem hochfahrenden Dialog mit Baruch Spinoza und Ezra Pound. Der poetische Absturz war gewaltig. Zum Triumph führte das intertextuelle Spiel jedoch bei Anja Utler (Leonce-und-Lena-Hauptpreis, 8000 Euro), die ein Motiv der russischen Dichterkönigin Marina Zwetajewa aufnahm. Das klangspielerische Murmeln, Rätseln und Raunen um die legendäre Seherin Sibylle, die einst als Priesterin des Apoll das Orakel im italischen Cumae hütete, hat Utler durch stetige semantische und syntaktische Verschiebungen in ein hochmusikalisches Sprachereignis verwandelt: „sibylle so: gähnt sie, ächzt: schwingen die: stimmlippen, -ritzen sie / kratzen: hinweg übern kalk, scheuern, reißen ein: krater vom / becken zur kehle der: stimmschlund, sibylle, sie: zittert, vibriert…“. So konnte man die fast unglaubliche Verwandlung einer Dichterin bestaunen, die noch vor zwei Jahren in Darmstadt als eher unauffällige Verfasserin von Liebes- und Natur-Miniaturen auftrat. / Michael Braun zum Leonce-und-Lena-PreisFR vom 19.3.


det/das: Kling über Christensen

Ungleich wirkungsmächtiger als alle Exponate der deutschen Nachkriegsavantgarde war det jedoch für Dänemark – ein sensationeller Publikumserfolg.

Für die beiden Deutschlands: Fehlanzeige. Und Fehlanzeige für Österreich. Das mag daran gelegen haben, dass die von zynisch-witzelnden Gesten nicht freie Autoren-Mannschaft der Wiener Gruppe sich nie an der großen Gedicht-Form versucht hat. Nur aus der sprachphilosophisch beschlagenen Szene wäre ein Werk zu erwarten gewesen, das sich an die Seite von dashätte stellen können. Es bestand einfach kein Interesse für das lyrische Großformat, sieht man von einigen Arbeiten Konrad Bayers ab, der aber im Alter von 31 schon starb; mit seinem mathemathisch konstruierten der vogel singt aus den frühen Sechzigern, immerhin ein Liliput-Versuch zum langen Gedicht, das nicht schwafelt, hätte er immerhin als der kleine Bruder der großen dänischen Schwester durchgehen können.

Interesse fehlt. Und das Können. So bleibt das ein funkelnder Solitär, begonnen 1967 in Kopenhagen, nach längerer Pause in Rom zwei Jahre später beendet. Ein all-chemisches Gedicht. Eines das „schillert, changiert, wirbelt“. Ein Gedicht – Sprache ist Delphi –, das per Zufalls-Steuerung zur Welt-Anschauung gelangt ist. Etwa zu diesem Schluss: „Drehung um drehung bekommt eine andere drehung.“ / Thomas Kling, Die Zeit vom 20.3.

Inger Christensen: det/das

Gedichte; aus dem Dänischen von Hanns Grössel; Kleinheinrich, Münster 2002; 463 S., 45,- Euro

(Irgendwie auch ein Kommentar zur nächsten Nachricht!)



 

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