Vor 100 Jahren wurde Marie Luise Kaschnitz geboren

Sie verteidigte 1960 Paul Celan gegen gehässige Plagiats-Vorwürfe. Sie trat 1972 in Zeitungsanzeigen für die Wahl Willy Brandts ein. Sie sympathisierte mit der Frankfurter Hausbesetzer-Szene. Marie Luise Kaschnitz war es zuweilen herzlich leid, mit wohlmeinenden Ehrentiteln ins Eck der Harmlosigkeit gerückt zu werden: „Niemand will wissen, ob ich es mit den Roten Zellen halte . . . Die Frage, ob ich ein auf der Flucht befindliches Mitglied der Baader-Meinhof-Gruppe in meiner Wohnung versteckt hätte, ist mir nie gestellt worden. Statt dessen soll ich von Rom erzählen.“ In den 70ern hätte sie schon die Vermeidung der Bezeichnung „Baader-Meinhof-Bande“ unter Sympathisanten-Verdacht bringen können. Kaschnitz war – jedenfalls seit 1943 – ein waches politisches Wesen. Wenn man ihr diese Pranke gar nicht zutraut, sollte man bedenken, dass Marie Luise Josephine von Holzing-Berstett, am 31. Januar 1901 als Offizierstocher in Karlsruhe geboren, 1974 in Rom gestorben, von Familie und Freunden „Leu“ genannt wurde. Liegt es an ihrer beinahe krankhaften Bescheidenheit, dass heute nur wenige wissen, was für ein Schatz in ihrem Werk ruht? Als Dolf Sternberger ihr 1948 die Mitherausgeberschaft der Wandlung anbot, antwortete sie: „Denke daran, wie dumm, wie schüchtern und wortkarg ich in Gesellschaft wirklich gebildeter Männer bin . . . Denke auch daran, daß ich 4/5 des Tages Dienstmädchen und Köchin sein muß . . . Denke daran, daß ich nicht nur im Positiven, sondern auch im Negativen eine Frau bin: ein ermüdbares, alle Öffentlichkeit scheuendes und faules Wesen, ein nur im künstlerischen Ausdruck vielleicht ernst zu nehmendes Individuum.“ / SZ vom 31.01.2001 Feuilleton

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