Hier im Nichts

Richard Dove

Übersetzung aus einer sterblichen Sprache

Alle Liebesgedichte sind geschrieben,
keine Übertreibung war übertrieben.

Alle Berge und Täler sind zerrieben,
auch das Weltall wird auseinanderstieben.

Hier im Nichts
zählt nur die Sonne deines Gesichts.

Aus: Richard Dove: Unterwegs nach San Borondón. Gedichte. Aachen: Rimbaud, 2020, S. 50

Uwe Hübner (1951-2024)

Uwe Hübner 

(* 14. Februar 1951 in Gelenau/Erzgeb., † Juni 2024) 

Heimat

Dann ist man angekommen. In jenem herrlichen Terrain. Das auch mit Gosse und Rinnstein benannt wird. Wunderbar niedergebettet. Den Körper unendlich gestreckt. Die Arme angelehnt. Das Gesicht; in dem großartigen Winkel aus Granit und Asphalt. Hingetan. Geschlossen die Augen. Ein zarter Regen. Darüberstäubend. Und sonst in Entfernung. Heilsame Leere. Ja. Dann ist man angekommen. Heimat. Ja. Mutter Erde. Du Gütige. Adieu!

Aus: Uwe Hübner, Pinscher und Promenade. Mit Zeichnungen von Siegfried Anzinger. Hrsg. Constanze Höhne. Berlin: Galrev, 1993, S. 5

Schutzraum

Agi Mishol 

(Hebräisch אגי משעול, geboren als Ágnes (Ági) Fried am * 20. Oktober 1946, einige Quellen nennen 1947, in Cehu Silvaniei / Szilágycseh, Siebenbürgen, Rumänien, lebt bei Tel Aviv)  

Schutzraum

Jetzt wo rundherum Tod kriecht
und Pekannüsse sich in ihre Schalen drücken
verstecke ich mich im Hebräischen.
Nichts wird mir geschehen beim arglosen Schreiben
nichts wird mir geschehen
wenn ich mich von den Buchstaben aufnehmen lasse
wenn ich nicht über die Linie schreibe –
geschrumpft in einen kleinen Punkt
eingezwängt in ein o oder
den Bauch eines g
in einen tränenden Strichpunkt
eingegeiselt.
Geliebte heilige Sprache –
jetzt wo alles seine Zeit hat
alles Entsetzen ist
wo der Hain uns seine Früchte reicht
und die Erde gepflügt ist
tue ich nur was Rilke sagt:
lasse mir alles geschehen
Schönheit und Schrecken
ohne zu denken
dass sie endgültig sind.

Oktober 2023

Aus: Agi Mishol, Gedicht für den unvollkommenen Menschen. Gedichte. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Mit einem Nachwort von Ariel Hirschfeld. München: Hanser (Edition Lyrik Kabinett), 2024, , S. 14

August Stramm 150

Dass er, August Stramm, das deutsche Gedicht sehr verkürzt hat, wissen wir von Ernst Jandl. Aber diese Kürze will erarbeitet sein. Das kurze Gedicht „Untreu“ hat viele meist längere Vorstufen. Hier einige davon.

August Stramm 

(* 29. Juli 1874 in Münster; † 1. September 1915 bei Horodec östlich Kobryn, heute Belarus)

[1. Skizze]

Untreu
Dein Lachen weint in meiner Brust
Dein silberhelles Lachen goldet
kalt ist dein heißer Mund
Mich zerreißt Verlangen
zerrt Entsetzen
[2. Skizze]

Untreu
Dein (silbern) Lachen (goldet)
goldnes. silbert
Dein heißer Mund (zerfriert)
erfriert
Dein Auge (trüget)
(glühet)
(glänzet)
(fiebert)
schielet Lüge
stiehlt die Blicke aus alter toter Zeit und lügt
sie neu
Deine Hände (feuchten)
tropfen
schweigen (Trug)
(Lug)
Trug
Und aus dem Munde (quellen) Dein Herz versteckt sich
zittern

Der Haß und Angst und Scheu.
Die Atemdüfte fiebern Leichenduft
Und winden scheu vorbei.
Und mit den Worten spielet
Dein Herz scheu Versteck
*Und kosen mich die Worte vorbei
Und was du mir auch sagest
ich fühl
vorbei vorbei
[3. Skizze]

Untreu
Dein goldnes Lachen silbert
Die heiße Lippe friert
(Dein)
Das Auge stiehlt die Blicke herauf
aus (toter toter Zeit)
meinem Grab.
Und (Leichenduft der Atem)
meine Leiche wittert in deinem Atem um
In deinem Atem duftet meine Leiche
* Dein Wort erstickt *das Herz
* Und Wort auf Wort erschüttert.
(Ich leb und bin ein Toter)
ein Toter lebe ich
Ich war!
und jeder Blick stiehlt mir etwas
Und jedes Wort schüttelt eine neue Schaufel auf mein Grab
Das Herz wandert *verstellt *in *den
[22. Vorfassung)

UNTREU von AUGUST STRAMM
Dein Lächeln weint in meiner Brust
Die (feuerbrandgen) Im Kuß (friert)
(glutzerrissnen) klirrt Glatteis
glutverrissnen
gerissen
gebissen
glutverbissnen Lippen eisen

Im Atem wittert (Sterben!)
(Unrast!)

Todluft
Grüfte
Gruft auf!
Grufthauch
Frosthauch
Gleichmut
Brodem
(Truggift)
Trugtod
Streitgift
Härte
Mitleid
schwelt Verrat
Lughast
Leidhauch
Streithauch
Streitsucht
Gallhauch!
Galle!
wittert Wandel!
schwelet. Asche!
sticket. Falschheit!
Vergessen!
Verlangen
Verlachen
Verachtung!

Dein Blick (begräbt)
(begräbt mich)
versargt

(Und) Und
(Poltert hastig)
hastet (trügebröcklig)
lügebröcklig Worte (nach)
drauf

(Dein) (Leis)
Der Kleidsaum weiß
Buhlet keck
Schlenkrig frech
(Rüber drüber!) buhlt der Kleidsaum
Drüber rüber! schlenkrig

Die Hände Lügenweich Lügenweich
glätten die Hände die Hände
lügenweich glätten glätten mich
Vergessen mich Vergessen
Druckfassung


UNTREU

Dein Lächeln weint in meiner Brust
Die glutverbissnen Lippen eisen
Im Atem wittert Laubwelk!
Dein Blick versargt
Und
Hastet polternd Worte drauf.
Vergessen
Bröckeln nach die Hände!
Frei
Buhlt dein Kleidsaum
Schlenkrig
Drüber rüber!

Aus: August Stramm, Die Dichtungen. Sämtliche Gedichte, Dramen, Prosa. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jeremy Adler. München Zürich: Piper, 1990, S. 35 und 315-319

Montagsgedicht

Zwei runde Jubiläen heischen heute Aufmerksamkeit: der 150. Geburtstag von August Stramm und der 50. Todestag von Erich Kästner. Weil heute Montag ist, entscheide ich mich für ein Montagsgedicht von Kästner und lasse Stramm bis morgen warten. Im übrigen sind mir die beiden sehr verschiedenen Autoren gerade recht, um wieder mal auf die Diversität dieser Anthologie zu verweisen. Wer in meinem Regal und meinem Kopf nebeneinander zu liegen & stehen kommt, muss es aushalten, auch hier gelegent- und nachbarschaftlich zu verkehren. Hier geht es nicht um meine (und um niemandes sonst) Lieblingsgedichte. Nicht repräsentativ soll es sein, nur divers. Oder wie die Norddeutschen sagen: Watt all jiwwt!

Erich Kästner veröffentlichte zwischen dem 11. Juni 1928 und dem 22. April 1930 fast in jeder Ausgabe der Berliner Zeitung „Montag Morgen“ ein Gedicht. Hier das erste dieser Zeitungsgedichte, das dem legendären Droschkenkutscher Gustav Hartmann gewidmet ist, der auf der Fahrt von Berlin am 4. Juni in Hamburg angekommen war. Aus gegebenem Anlass grüßen wir auch heute die Stadt an der Seine, die immer noch für Diversität steht.

Erich Kästner 

(* 23. Februar 1899 in Dresden; † 29. Juli 1974 in München)

Die Gustavs

Im wunderschönen Monat Mai
Befuhr ein Mann mit seinem Pferde
Ein großes Stück der kleinen Erde.
Ein Redakteur war auch dabei.
Selbstverständlich.

Man fuhr von Wannsee nach Paris.
Zwei Völker winkten mit den Mützen.
Auch schien es der Idee zu nützen,
Daß unser Kutscher Gustav hieß.
Selbstverständlich.

Obwohl er nicht Französisch kann,
Hat er sich mit Paris verständigt.
Denn dort, wo das Verstehen endigt,
Fängt die Verständigung erst an:
Selbstverständlich.

Wer nach Paris will, braucht Geduld,
Raketenflug hat keinen Zweck.
Wer langsam fährt, kommt schnell vom Fleck.
Daran sind nicht die Kutscher schuld,
Selbstverständlich.

Was sollen Völker mit Genies?
Wir Völker wollen Gustavs haben,
Die langsam, aber sicher traben!
Und das gilt nicht nur für Paris
Selbstverständlich.

11. Juni 1928

Kommentar des Herausgebers der „Montagsgedichte“, Alexander Fiebig:

Am Montag, dem 4. Juni 1928, traf der Droschkenkutscher Gustav Hartmann (bekannt auch durch Falladas Roman „Der eiserne Gustav“) in Paris ein. In der deutschen Botschaft hielt er eine originelle und begeisternde Rede über die Verständigung zwischen Paris und Berlin. Kästner vergleicht ihn mit dem Außenminister Gustav Stresemann, dessen Außenpolitik eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland anstrebte.

Aus: Kästner, Erich, Montagsgedichte. Zusammengestellt und kommentiert von Alexander Fiebig. Berlin : Aufbau-Verl., 1989 (1. Aufl.), S. 5f – Das Taschenbuch in der bb-Reihe des Ostberliner Aufbau-Verlags gibt an: „Ausgabe für die Deutsche Demokratische Republik mit Genehmigung des Atrium-Verlages, Zürich“. Jedoch lässt sich bei der Deutschen Nationalbibliothek keine frühere Ausgabe des Titels ermitteln, die DNB listet vielmehr diese Aufbau-Ausgabe zuerst. Erst 2012 erschien eine Buchausgabe bei Atrium „Die MontagsGedichte / Erich Kästner. Mit einem Vorw. von Marcel Reich-Ranicki. Kommentiert von Jens Hacke“ und zugleich ein Hörbuch (CD) , die als Erstausgabe bezeichnet wird. Vielleicht weiß jemand aus der Leserschaft mehr darüber?

Ein guter Mensch

Bertram Reinecke

Die sechsunddreißigfältige Wahrheit Gottes
GOTT: ... Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.


Johann Wolfgang von Goethe


Ein rechter Mensch in seinem guten Drange
Ist sich des dunklen Weges wohl bewußt.
Ein dunkler Mensch in seinem rechten Drange
Ist sich des guten Weges wohl bewußt.
Ein guter Mensch in seinem rechten Drange
Ist sich des dunklen Weges wohl bewußt.
Ein rechter Mensch in seinem dunklen Drange
Ist sich des guten Weges wohl bewußt.
Ein dunkler Mensch in seinem guten Drange
Ist sich des rechten Weges wohl bewusst.

Ein guter Weg in seinem dunklen Menschen
Ist sich des rechten Dranges wohl bewußt.
Ein guter Drang in seinem dunklen Wege
Ist sich des rechten Menschen wohl bewußt.
Ein guter Mensch in seinem dunklen Wege
Ist sich des rechten Dranges wohl bewußt.
Ein guter Weg in seinem dunklen Drange
Ist sich des rechten Menschen wohl bewußt.
Ein guter Drang in seinem dunklen Menschen
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.

Ein rechter Mensch in seinem guten Wege
Ist sich des dunklen Dranges wohl bewußt.
Ein dunkler Mensch in seinem rechten Wege
Ist sich des guten Dranges wohl bewußt.
Ein guter Mensch in seinem rechten Wege
Ist sich des dunklen Dranges wohl bewußt.
Ein rechter Mensch in seinem dunklen Wege
Ist sich des guten Dranges wohl bewußt.
Ein dunkler Mensch in seinem guten Wege
Ist sich des rechten Dranges wohl bewußt.

Ein rechter Drang in seinem guten Wege
Ist sich des dunklen Menschen wohl bewußt.
Ein dunkler Drang in seinem rechten Wege
Ist sich des guten Menschen wohl bewußt.
Ein guter Drang in seinem rechten Wege
Ist sich des dunklen Menschen wohl bewußt.
Ein rechter Drang in seinem dunklen Wege
Ist sich des guten Menschen wohl bewußt.
Ein dunkler Drang in seinem guten Wege
Ist sich des rechten Menschen wohl bewußt.

Ein rechter Drang in seinem guten Menschen
Ist sich des dunklen Weges wohl bewußt.
Ein dunkler Drang in seinem rechten Menschen
Ist sich des guten Weges wohl bewußt.
Ein guter Drang in seinem rechten Menschen
Ist sich des dunklen Weges wohl bewußt.
Ein rechter Drang in seinem dunklen Menschen
Ist sich des guten Weges wohl bewußt.
Ein dunkler Drang in seinem guten Menschen
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.

Ein rechter Weg in seinem guten Menschen
Ist sich des dunklen Dranges wohl bewußt.
Ein dunkler Weg in seinem rechten Menschen
Ist sich des guten Dranges wohl bewußt.
Ein guter Weg in seinem rechten Menschen
Ist sich des dunklen Dranges wohl bewußt.
Ein rechter Weg in seinem dunklen Menschen
Ist sich des guten Dranges wohl bewußt.
Ein dunkler Weg in seinem guten Menschen
Ist sich des rechten Dranges wohl bewusst.

Ein rechter Weg in seinem guten Drange
Ist sich des dunklen Menschen wohl bewußt.
Ein dunkler Weg in seinem rechten Drange
Ist sich des guten Menschen wohl bewußt.
Ein guter Weg in seinem rechten Drange
Ist sich des dunklen Menschen wohl bewußt.
Ein rechter Weg in seinem dunklen Drange
Ist sich des guten Menschen wohl bewußt.
Ein dunkler Weg in seinem guten Drange
Ist sich des rechten Menschen wohl bewußt.

Aus: Bertram Reinecke, Daphne, ich bin wütend. Gedichte. Leipzig: poetenladen, 2024, S. 19-21

Weiterlesen

Rainer M. Gerhardt (1927-1954)

Gerhardt scheiterte an der fehlenden breiten Anerkennung, die ihn, finanziell ruiniert und literarisch isoliert, 1954 in den Selbstmord trieb.

https://de.wikipedia.org/wiki/Rainer_Maria_Gerhardt

Rainer MGerhardt 

(* 9. Februar 1927 in Karlsruhe; † 27. Juli 1954 in Karlsruhe) 

lied

ich habe die wimper mit grün gefärbt
auch habe ich in den schmelztiegel rot getan
ich will einen pinsel nehmen
und mit diesem die monde auf meinen brüsten malen

es werden ganz große monde sein
die die kuppen meiner schneehügel umgeben
sie warten auf seinen mund daß er spiele mit ihnen
und seine zähne haben spuren in ihnen gelassen

sie sind gemalt mit einem besonderen rot
der meister der königin hat mir ein wenig gegeben
ein solches rot besitzt nur die königin
wenn festlich die könige ihre brüste entblößen

es hat mich sehr viel land gekostet
den ganzen palmenhügel unten am flusse
doch für die roten monde auf meinen brüsten
gebe ich alles brächten sie ihn mir nur wieder

Aus: Rainer Maria Gerhardt, UMKREISUNG. Das Gesamtwerk. Herausgegeben von Uwe Pörksen in Zusammenarbeit mit Franz Josef Knape und Yong-Mi Quester. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 31

Nachts um elf

Ein Gedicht, vier Versionen

Manuel Altolaguirre 

(* 29. Juni 1905 in Málaga; † 26. Juli 1959 in Burgos)

Manuel Altolaguirre zählt zu den Lyrikern der Generación del 27, die ab 1927 die spanische Lyrik erneuerte.

Noche a las once

Éstas son las rodillas de la noche.
Aún no sabemos de sus ojos.
La frente, el alba, el pelo rubio,
vendrán más tarde.
Su cuerpo recorrido lentamente
por las vidas sin sueño,
en las naranjas de la tarde,
hunde los vagos pies, mientras las manos
amanecen tempranas en el aire.
En el pecho la luna.
Con el sol en la mente.
Altiva. Negra. Sola.
Mujer o noche. Alta.
Soledades juntas, 1931

Aus: Spanische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Spanisch/Deutsch. Ausgewählt, kommentiert und herausgegeben von Gustav Siebenmann und José Manuel López. Stuttgart: Reclam, 1985, S. 200. Auch in dass., 5., überarb. u. erw. Aufl., 2003.

Karl Krolow 1962

NACHT, ELF UHR

Dies sind die Kniee der Nacht.
Noch wissen wir nichts von ihren Augen.
Die Stirn, die Frühe, die hellen Haare
folgen später.
Ihren Körper durchrinnt langsam
Leben ohne Traum,
in die Orangen des Abends
taucht sie die leichten Füße, während die Hände
erwachen, zeitig, in der Luft.
In der Brust: der Mond.
Die Sonne: im Geiste.
Erhaben. Schwarz. Einsam.
Frau oder Nacht. Hoch und stolz.

Aus: Spanische Gedichte des 20. Jahrhunderts. Ausgewählt und übertragen von Karl Krolow. Frankfurt/Main: Insel, 1962 (Sonderausgabe im Insel-Verlag), S. 49ff

Erna Brandenberger 1980

Nachts um elf

Das sind die Knie der Nacht.
Noch kennen wir ihre Augen nicht.
Die Stirn, der Morgen, das blonde Haar
kommen viel später.
Ihr Leib wird langsam durchlaufen
von den Leben ohne Schlaf,
in die Orangen des Abends
taucht sie die wandernden Füße, während die Hände
früh aufwachen an der Luft.
An der Brust der Mond.
Mit der Sonne am Kopf.
Erhaben. Schwarz. Allein.
Frau oder Nacht. Groß.

Aus: Poetas españoles. La generación del 27. Spanische Dichter. Die Generation von 1927. Einführung und Autorenporträts von José Luis Cano. Herausgegeben und übersetzt von Erna Brandenberger. München: dtv / Edition Langewiesche-Brandt, 1980, S. 121

Gustav Siebenmann 1985

Nacht, um elf Uhr

Dies sind die Knie der Nacht.
Von ihren Augen wissen wir noch nichts.
Die Stirn, das Taglicht, das blonde Haar,
sie kommen später.
Ihr Körper, träge durchströmt
von den Leben ohne Schlaf,
taucht in die Orangen des Abends
die schweifenden Fulse, wahrend die Hände
im Frühwind auferstehen.
An der Brust der Mond.
Mit der Sonne im Gedenken.
Hochmütig. Schwarz. Einzig.
Weib oder Nacht. Erhaben.

Aus: Spanische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Spanisch/Deutsch. Ausgewählt, kommentiert und herausgegeben von Gustav Siebenmann und José Manuel López. Stuttgart: Reclam, 1985, S. 201. Auch in dass., 5., überarb. u. erw. Aufl., 2003.

Heischesatz

Christian Filips

Heischesatz vom Schneien

Ach fiele doch ein Schnee, ein Schneien,
ein feines Schlichten über uns herein,

ach legte es sich zärtlich doch und flockend
aufs ganze überhitzte Raum-Ambiente,

auf unser Streiten, unsre nächsten Schritte,
und alles klänge sacht, bedacht, gedämpft.

Ach fiele doch ein Schnee, ein Schneien,
ein feines Schlichten über uns herein,

auf unser beider muntres Untenrum,
auf unser beider arges Mordsgebrummel,

ach fiele doch ein Schnee, ein Schneien,
ein feines Schlichten über uns herein,

uns meterhoch auch vor die eigne Tür,
in der wir uns geirrt, an der wir uns

fast irre aneinander stießen, Zeit
wie Schnee ...

Aus: Christian Filips, Heiße Fusionen, Beta-Album. Gedichte und Analysen zur poetischen Ökonomie, 2007-2018, herausgegeben von Urs Engeler, roughbook 005/045. Erste Auflage Mai 2010. Fusionierte und erweiterte zweite Auflage Juli 2018. Holderbank, Schupfart, Berlin-Moabit, Pera Melana. S. 112

Die Vierzeiler vom 24. Juli

Oswald Eggers Gedichtband „nihilum album“ (Suhrkamp 2007) trägt zwei scheinbar traditionelle Gattungsnamen im Untertitel: „Lieder & Gedichte“. In einer Nachbemerkung nennt er noch zwei: Stanzen und Quatrains. Das Buch enthält eine große Zahl kurzer, vierzeiliger Gedichte, genau sind es 3650 Stück (in der Nachbemerkung erklärt er, dass es jeweils 10 „Lieder und Gedichte“ pro Tag sind). Es sind also 3650 Quatrains oder Vierzeiler, aber was sind Lieder, was Gedichte? Alle Gedichte sind ohne Titel und ohne Gattungsbezeichnungen. Jeweils 10 solcher Gebilde werden durch eine kleine Zeichnung von der nächsten Zehnergruppe (dem nächsten Kalendertag) getrennt. Die 3650 Gedichte sind einzeln bestimmbar durch ein nüchternes mathematisches System: Monatszahl-Datum-Nummer der Tagesgedichte von 1-10. Das erste Gedicht ist 1.1.1, zu entziffern: Januar-erster-erstes Gedicht, und das letzte auf Seite 150: 12.31.10. also zehntes Gedicht vom 31.12. Dadurch lässt sich das Buch als Kalender lesen, jeden Tag zehn Gedichte (nur der 29. Februar hat keins).

Hier die zehn Gedichte für den 24. Juli, darüber die Strichzeichnung (eine Art exzentrisch tanzendes Strichmännchen).

(Hat jemand Lust zu entziffern oder zu erraten, welches dieser 10 kurzen Gedichte „Gedicht“ und welches „Lied“ ist?)

Das Getreide
steht in Puppen
und stellt
Ähren auf.

Die Nacht
am Abend,
Mond-hell
wie am Tag.

Ich tastete
ins Hand-Faß,
aß Honige
aus Waben.

Ins Totwasser
klunct ein Stein,
und mein Kahn schwankt
gegen Pfahl und alles.

Ich nahm ein Ruder-
Scheit und schmiß damit,
Fuchteln
Fugen vor den Bug.

Arven-Nuß
verharzte
Kirschfink
filp'te Flügel.

Um die Fluß-
Insel ging eine
Schilfstapf-Harfe
singend im Strom.

Das Boot
der Vetter
klappert
im Moorbruch.

An einen Nagel
kann ich Eier nicht hängen,
und Federn werfen
nicht übers Dach.

Auf einem
Vierbeintisch
wird mein Kopf
verhandelt.

Aus: Oswald Egger, nihilum album. Lieder & Gedichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2007, S. 87

Vor einigen Tagen wurde mitgeteilt, dass Egger in diesem Jahr mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet wird.

Da ich an mir müd geworden

Hermann Broch 

(* 1. November 1886 in Wien; † 30. Mai 1951 in New Haven, Connecticut)

LIEBESLIED

Da ich an mir müd geworden
– müd geworden,
bist du, Mädchen, mir geworden
– mir geworden
und im Dufte deiner Haare,
lichten Haare
bringst du Tage, bringst du Jahre
alter Gegend: Meeresküste,
deutsche Stadt in Sonnenrüste,
Erntefeld und Palmenhain,
Felsenstrand und Algenstein,
Bahnhofhalle, Kirchturmläuten –
und aus allen fernen Weiten
(da ich an mir müd geworden)
bringst du Tage, bringst du Jahre –

Lieb ich dieses Wunderbare?
oder deine lichten Haare?

(um 1919)

Aus: Hermann Broch, Gedichte. (Kommentierte Werkausgabe. Hrsg. Paul Michael Lützeler. Bd. 8). Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1986 (2. Aufl.; 1. 1980), S. 19

Gefrorene Gedichte

Karl Shapiro

(auch Carl Jay Shapiro, geboren 10. November 1913 in Baltimore; gestorben 14. Mai 2000 in New York City)

Das nennen Sie Gedichte?

In Haiderabad, Stadt gleißender Marmorpaläste,
Universität aus weißem Marmor,
Spielzeug der Nizam, las ich etwas Lyrik
Von William Carlos Williams, Amerikaner.
Und die gebildeten und weltmännischen Hindus
Und die gutgekleideten Muslime sagten,
«Das nennen Sie Gedichte?
Sind diese Dinger Lyrik?»

Viele Jahre schrieb ich selber Lyrik,
Die den kultivierten Muslimen und Hindus wohlgefiel,
Wirkungsvolle Gedichte, im jambischen Pentameter,
Mit maskuliner Inversion im zweiten Fuß,
Gefrorene Gedichte, Eispickel in ihrem Kern,
Und lauter Anspielungen aus anderer Leute Bücher.

Anm.: Nizam, Titel der früheren Herrscher in Haiderabad

Deutsch von Mitch Cohen, aus: Englische und amerikanische Dichtung 4. Amerikanische Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Herausgegeben von Eva Hesse und Heinz Ickstadt. München: C. H. Beck, 2000, S. 343

You Call These Poems?

In Hyderabad, city of blinding marble palaces,
White marble university,
A plaything of the Nizam, I read some poetry
By William Carlos Williams, American.
And the educated and the suave Hindus
And the well-dressed Moslems said,
«You call those things poems?
Are those things poems?»

For years I used to write poems myself
That pleased the Moslems and Hindus of culture,
Telling poems in iambic pentameter,
With a masculine inversion in the second foot,
Frozen poems with an ice-pick at the core,
And lots of allusions from other people's books.

Ebd. S. 342

Schwarzes Tamburin

Hart Crane

(* 21. Juli 1899, heute vor 125 Jahren, in Garrettsville, Ohio; † 26. April 1932 im Golf von Mexiko)

Schwarzes Tamburin

Die Wünsche eines schwarzen Manns in einem Keller
Verkünden spätes Urteil an der Welt verschlossnem Tor.
Schnaken tanzen dort im Schatten einer Flasche,
Und eine Schabe grätscht über einen Spalt im Flur.

Æsop, ins Grübeln gebracht, fand
Himmel bei Schildkröt und bei Has;
Fuchsschwanz und Sauohr deckt sein Grab
Und flimmernder Luftgesang das Gras.

Der schwarze Mann, verloren in dem Keller,
Wandert durch Mittelwelten, dunkle, die da liegen
Zwischen seinem Tamburin, fest an der Wand,
Und, in Afrika, einer Leiche quick mit Fliegen.
Black Tambourine

The interests of a black man in a cellar
Mark tardy judgment on the world's closed door.
Gnats toss in the shadow of a bottle,
And a roach spans a crevice in the floor.

Æsop, driven to pondering, found
Heaven with the tortoise and the hare;
Fox brush and sow ear top his grave
And mingling incantations on the air.

The black man, forlorn in the cellar,
Wanders in some mid-kingdom, dark, that lies,
Between his tambourine, stuck on the wall,
And, in Africa, a carcass quick with flies.

Deutsch von Heinz Ickstadt. Aus: Englische und amerikanische Dichtung 4. Amerikanische Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Herausgegeben von Eva Hesse und Heinz Ickstadt. München: C. H. Beck, 2000, S. 194f

Lieder von der schönen Dame

Alexander Blok 

(russisch Александр Александрович Блок, wissenschaftliche Transliteration Aleksandr Aleksandrovič Blok (in deutschen Ausgaben manchmal Block); * 16. Novemberjul. / 28. November 1880greg. in Sankt Petersburg; † 7. August 1921 in Petrograd)

Aus dem Zyklus "Lieder von der schönen Dame"

***

Es entzünden sich heimliche Male
An der blinden und schlafenden Wand.
Rot und goldene Augen erstrahlen
Und belasten den Schlaf, den ich fand.

Ich verkriech' mich in nächtliche Höhlen
Und vergesse, was streng und schön.
In der Früh – schauen blaue Chimären
Aus den Spiegeln der grellen Höhn.

Ich entflieh in gewesene Zeiten
Und bedecke die Augen, den Kopf —
Auf des Buches erkaltenden Seiten
Liegt ein goldener Mädchenzopf.

Tiefer lagert das Himmelsgewölbe,
Schwarzer Traum meine Seele umwand.
Nicht mehr weit ist mein schicksalhaft Ende,
Und die Zukunft bringt Kriege und Brand.

Oktober 1902

Aus dem Russischen von Wanda Berg-Papendick, aus: Der Mystiker Alexander Block im Spiegel seiner Lyrik. Ausgewählte Dichtungen. Frankfurt/Main: Possev, 1967, S. 50f

             ***

Разгораются тайные знаки
На глухой, непробудной стене.
Золотые и красные маки
Надо мной тяготеют во сне.

Укрываюсь в ночные пещеры
И не помню суровых чудес.
На заре — голубые химеры
Смотрят в зеркале ярких небес.

Убегаю в прошедшие миги,
Закрываю от страха глаза,
На листах холодеющей книги –
Золотая девичья коса.

Надо мной небосвод уже низок,
Черный сон тяготеет в груди.
Мой конец предначертанный близок,
И война и пожар — впереди.

Октябрь 1902

Jedem Vers seine Schwörungstheorie

Konstantin Ames

Illyrisch gedacht an Schnauzers braune Nacht

Wir sind trainiert, Dichtungen wie
Artefakte zu betuen. Die Klempner
schmunzeln. Dabei ist alles dran (im Schnitt)
an so einem Poem: Pimmel Kehle Kommata
Möse Zunge Zähne; es riecht. Oft stinkt's.
Theorie das Parfum. Kloppo, der echte, wusste reiner.
Messias daher als Lehms Thema. Dann guckt keiner
so genau nach unterm Gewandhaus.
Der auf Brücken singt das Faust-
recht: Jedem Vers seine Schwörungstheorie
(und Uta kamen schon löchrigere zu Ohren)
löst sich als Häufchen gern vom läufigen Hund.
Also Urnen betupfen; da geht das Mehl einem nie aus.

Für Michael Spyra

Aus: Konstantin Ames, Verständniserklärun/ g 2 Kapitel. Gedichte. Berlin: Noack & Block, 2023, S. 53