Mein Vater hat mich sehr geliebt

Shen Haobo (沈浩波)

Mehr als das Leben

Mein Papa hat mich sehr geliebt, man kann sogar sagen, mehr als mein Leben. Seine Liebe war stark, wenn er mich schlug, zuckten die Muskeln in meinem Gesicht. Eine Ohrfeige nach der anderen, bis ich Sterne sah. Aber er war bei Weitem nicht der grausamste Vater. Ein Kollege von meiner Mama, der alte Huang von der Schulverwaltung, der hatte nur ein einziges Kind, das war sein Augapfel. Er fuhr immer herum mit seinem Fahrrad und suchte seinen Sohn. Bei einem Billardtisch an der Straße sah er seinen Sohn mit dem Cue in der Hand, ganz ins Spiel vertieft. Da fuhr Herr Huang in seiner Wut mit seinem Fahrrad hinein, sodass sein Sohn auf die Straße flog.

Mondneujahr in meiner Kindheit

Damals war das Frühlingsfest irgendwie einfach und frisch. Das nächtliche Krachen, man sticht alten Lehm auf, darunter kommt unberührt schwarze Erde hervor. Junge Leute in neuen Kleidern mit blaugefrorenen Wangen schwingen die Arme auf dem Weg in die Marktstadt. Die frische Erde, die frischen Kleider, Salpeter und Schwefel. Ich mag die Gerüche und fühle mich einsam.

Zusammengebunden

Li Qiaoling, eine Kollegin von meinem Vater, ist oft bei uns vorbeigekommen, um mit meiner Mutter zu plaudern. Sie reden und reden, dabei kommen sie auf eine andere Kollegin meines Vaters, die heißt Lin Huahua. Und eines Tages sagt Li Qiaoling zu meiner Mutter in ernstem Ton, du musst wirklich aufpassen. Der alte Shen und Lin Huahua, da hört man draußen schon lauter Geschichten. Meine Mutter sagt aufgeregt: „Ich werd es erst glauben, wenn man die beiden zusammengebunden zu mir bringt!* Und Li Qiao-ling erstarrt, sie erstarrt nicht nur, sie beginnt zu weinen. Als Li Qiaoling jung war, wurde sie einmal mit einem anderen Mann zusammengebunden und vor ihren Mann gebracht.

1989, Heftige Diskussionen unter den Lehrkräften

In den paar Monaten seh ich sehr viele Male, wie Papa und Mama mit den anderen Lehrkräften in ihren Schulen zusammenstehen und diskutieren. Das war bewegend. In unserer entlegenen Landmittelschule mit diesen Lehrkräften, die sich sonst spöttisch „die kleinen Intellektuellen“ nennen, dass so etwas aufwallt in ihren Mienen. Das war dann natürlich auch das letzte Mal. Nach jener Nacht, die nicht erwähnt wird, sind sie zum Schweigen zurückgekehrt.

Schüsse

Sie fahren mit den Rädern und lachen in den Wind. Einer lässt die Lenkstange los, greift in den Himmel. Das ist ihre Jugend. Die Schüsse erschallen ein paar Tage später. Ich sitze im Kaffeehaus im Eck, seh auf dem Handy Filme von damals. Ich seh diese achtzehn-, neunzehnjährigen Kinder zum Tor des Himmlischen Friedens radeln. Ein leichter Wind fährt in ihre Hemden, ein leichter Wind zerzaust ihre Haare. (Gewidmet den jungen Leuten von 1989)

Aus dem Chinesischen von Martin Winter. Aus: Shen Haobo, In China dichten. Über die ersten zwanzig Jahre meines Lebens, 1976 bis 1995 (…). Eine Erinnerung in sechsundzwanzig Teilen. FAZ vom 13.12., Bilder und Zeiten, S. Z 5.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..