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Heute vor 25 Jahren ist Ernst Jandl gestorben. Im Sommer gibt es dann noch den 100. Geburtstag. Heute habe ich ein relativ langes Gedicht ausgewählt (das womöglich aktuell ist) und im Anschluss, bei Bedarf, ein wirklich kurzes und im Wortsinn einfaches. (Wobei mir meine lange Erfahrung im Reden über Gedichte sagt, dass manche im Zweifel das lange Gedicht eher bereit sind zu verstehen als das einfache und kurze. Wahrscheinlich weil sie eher gelernt haben, über Gedichte interpretierend zu reden als den einfachen Anweisungen eines Gedichts zu folgen. Weil es so einfach ist, gebe ich eine kurze Handreichung.) Beide Gedichte wurden erstmals etwa 16 Jahre nach dem Tod des Autors gedruckt.
Ernst Jandl
(* 1. August 1925 in Wien; † 9. Juni 2000 ebenda)
entwicklung staatsbürgerlichen denkens
in 4 phasen mit anmerkungen
erste phase: kindheit
wie klein sind wir.
wie groß seid ihr dagegen.
ihr seid die herrn.
wir haben euch gern, wenn ihr uns zum photographieren
auf den arm nehmt, weil ihr dann ein freundliches gesicht macht.
(aber im unterbewußten bereits:
1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 –
keiner noch ist klein geblieben.)
zweite phase: jugend
wir sind im wachsen.
größer seid ihr ja noch, aber:
wartet nur, balde
kommen wir (an die reihe, ist zu ergänzen,
wobei sich der einfluß allgemeinbildenden pädagogischen mühens in
der klassischen formulierung, die sich eben in dieser auslassung stark
pointiert verdeutlicht, verdeutlicht.)
dritte phase: reife
wie vernünftig sind wir.
wie vertrottelt seid ihr.
das volk hat immer recht.
ihr könnt uns gern haben.
(starkes erwachen demokratischer gefühle äußert sich in kraftaus-
drücken, attentatsträumen sowie in aggressionsakten – mit vorliebe
gegen ehepartner –, die als demokratische ersatzhandlungen zu werten
sind.)
vierte phase: ueberreife
wie alt sind wir?
wie alt seid ihr?
und da wollt ihr die herren spielen?
grünschnäbel!
(in ländern, deren öffentlicher apparat sich fast ausschließlich aus
angehörigen der alterskreise 4 und 5 rekrutiert, muß wegen allfälligen
sympathisierens gleichaltrig ueberreifer die darstellung der vierten
phase mit vorbehalt aufgenommen werden.)
(die darstellung der) fünfte(n) phase (mußte leider unterbleiben, da die
angehörigen dieses alterskreises wegen zeitmangels derzeit nicht in der
lage sind, eine meinung zu äußern.)
(anmerkung: unter »herren« sind die aus allgemeinen, freien und
geheimen wahlen hervorgegangenen volksvertreter zu verstehen.)
Aus: Ernst Jandl, werke in 6 bänden, herausgegeben von Klaus Siblewski. werke 1. München: Luchterhand, 2016, S. 520f
simple maths
hhhhhhhh eight h eighth 8th 8 th thththththththth
Aus: Ebd. S. 560. – Das erste Gedicht ist vom 13.7.52, das zweite vom 1.12.64.
Handreichung: Nehmen Sie die Überschrift ernst. Sie ist wie das ganze Gedicht auf Englisch: weil es nur auf Englisch funktioniert. Zählen Sie die „h“ am Anfang der Zeile; dann finden Sie, dass die Antwort schon im Gedicht steht, und die Gedichtmaschine funktioniert ganz einfach: aus einem Wort ergibt sich immer folgerichtig das nächste, bis die 8 „h“ in 8 „th“ umgewandelt sind. Das Gedicht bedeutet nicht – es tut. Aber das Gedicht ist ja der Vorgang. (Das Zitat ist von unvermuteter Stelle, Herrn Oskar Loerke.) Man kann es deshalb auch konkrete Poesie nennen. Keinerlei abstrakte Bedeutung oder Nichtbedeutung impliziert, nur der konkrete Vorgang des Gedichts.
(Ein befreundeter Autor meint, die konkrete Poesie sei in Wirklichkeit abstrakte Poesie, nun ja. Die Welt ist groß genug, dass wir beide in ihr Unrecht haben können. Sagte wieder ein anderer, aber er sagte es mit scharfem „ß“.)
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