Kann man denn nie allein sein?

Thomas Brasch 

(* 19. Februar 1945 in Westow, North Yorkshire; † 3. November 2001 in Berlin)

Kassandra 3

An die Stelle von Lenins Bild hängte er
1930 Stalins Bild: Stalins Bild
legte er 1933 in den Koffer und hängte es
über sein Bett in der Pariser Jugendherberge.
Als er aus der Emigration zurückkam,
hängte er neben Stalins Bild
das Bild Wilhelm Piecks.
1956 nahm er Stalins Bild von der Wand und
stellte es in den Keller hinter die Einweckgläser.
1960 wechselte er das Bild Wilhelm Piecks
mit dem Bild Walter Ulbrichts aus.
1971 nahm er das Bild Walter Ulbrichts von der Wand
und hängte das Bild seiner Frau an den Nagel.
1973 ging er in Rente. An die Stelle
des Bildes seiner Frau hängt er einen Spiegel
und sah hinein.
»Wer ist das«, schrie er,
»kann man denn nie allein sein.«

Aus: 100 Gedichte aus der DDR. Hrsg. von Christoph Buchwald und Klaus Wagenbach. Berlin: Klaus Wagenbach, 2009, S. 128

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