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Heute vor 90 Jahren wurde in Limlingerode am Rand des Harzes Ingrid Hella Irmelinde Bernstein geboren, die sich als Dichterin den Vornamen Sarah gab und aus ihrer Ehe mit dem Dichter Rainer Kirsch dessen Nachnamen mitnahm.
Zum Anlass wähle ich ein Gedicht aus dem 1982 erschienenen Band „Erdreich“. Damals ging ich mit einem Stempel der Universität zu den großen Bibliotheken in Leipzig und Ostberlin, um in der DDR nicht erhältliche Bücher zu lesen, darunter die von Sarah Kirsch, die nach ihrer Ausreise aus der DDR nun „drüben“ erschienen. Ich zitiere es aber aus einer im damaligen DDR-Leitverlag Aufbau noch schnell im Herbst 1989, nach dem Fall der Mauer und der Aufhebung der Zensur zusammengestellten Auswahl aus ihren in der Bundesrepublik erschienenen Büchern (Auswahl: Gerhard Wolf) für die Leser in der DDR. Dieses Gedicht handelt sozusagen in der DDR, in einer imaginierten Begegnung mit ihren Dichterfreunden im Schloss Wiepersdorf. Das Gedicht nennt Heinz Czechowski, Adolf „Edi“ Endler, Richard Leising, Karl Mickel, Fritz Rudolf Fries, Grabbe (huh, etwa Christian Dietrich, 1801-1836? Oder ein Spitzname?), Elke (Erb), Volker Braun und Johannes Bobrowski (1917-1965). Zur Entstehungszeit des Gedichts waren auch die (hinter dem Eisernen Vorhang) Lebenden für die Republikflüchtige nicht erreichbar. Im Gedicht kommen sie in einem rauschhaften Sommernachtstraum zusammen.
Sarah Kirsch
(* 16. April 1935 in Limlingerode, Provinz Sachsen; † 5. Mai 2013 in Heide (Holstein))
Reisezehrung 7
Als die Eulen zu fliegen begannen, die Käuze
Einladend riefen, lief ich im Park hin und her
Traf die Dichter rings in den Tannen.
Czechowski kam klagend den Hauptweg entlang
O meine Leber rief er fressen die Geier
Ich weiß nicht wo ich fürderhin bin
Aus der Harfe des kopflosen Orpheus
Hörte Edi das Sirren und nickte.
Leising und Mickel lehnten am steinernen Söller
Als eben der Mond über Jüterbog makellos aufging
Sie tranken spanischen Rotwein von Fries
Und skandierten herrliche Stücke, Grabbe
Hatte den Finger ins Windlicht gesteckt
Und machte Elke eine lange Erklärung. Braun
Dachte einesteils andrerseits und erwog den Gedanken
Sein Schauspiel zum siebten Mal zu verändern
Da trieben uns die reinsten Akkorde
Die Stufen hinunter und ich riß die Tür auf.
Bobrowskis schöner Pferdekopf
Sah uns übers Harmonium an, ihm gehörte
Der Wintergarten mit den litauischen Bäumen
Er warf den Schneesturm an, spielte
Wolfsgeheul mit zerbrochnen Registern und Hymnen
Auf Texte von Brockes. Die flackernden Lichter
Die schaukelnden Bäume zerspringenden Gläser
Fliegenden Stimmen in dieser einzigen Nacht
In Bettines Haus. Die Schatten der Freunde
Zerstreuten sich in alle vier Winde.
Aus: Sarah Kirsch: Die Flut. Gedichte. Berlin und Weimar: Aufbau, 1989, S. 31
Das Buch hat 156 Seiten und kostete 8,40 DDR-Mark.
Das Bild ist natürlich KI-Produkt. Ich habe keine Vorgaben („prompts“) gemacht. KI hat aus diesem Artikel selbst einen sehr detaillierten Prompt erstellt und damit gearbeitet.
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