Mayröcker 100

Friederike Mayröcker 

(* 20. Dezember 1924, heute vor 100 Jahren, in Wien; † 4. Juni 2021 ebenda)

DIES DIES DIES DIESES ENTZÜCKEN ICH KLEBE AN DIESER ERDE 
an dieser hinschmelzenden Erde an diesem Baldachin eines 
Junihimmels dessen Bläue in Wellen gebauscht und mit tiefen 
Schwalben : ich meine trunken und zuweilen verborgen, scheinen 
sich zu verbergen in irgend Buchten und Malven Holunderbäumen : 
wilden Monstranzen .. die Luft ist wie damals, ja, die Luft
wie damals in D., die Zirren nein Zirben die Wolfsmilchstauden
VON ANBEGINN : alle Schmerzen aller Wahn schon Ewigkeiten vorher 
seit Ewigkeiten erlitten, die lilies Magnolienfelder, von oben 
von irgendwoher ich glaube aus verhülltem Gezweig diese 
einzelne Stimme mich durchdringt : mein unsichtbarer 
Liebster in dieser Baumkrone ach jubiliert! diese Lust diese 
Süsze ich KLEBE an dieser Flammen Erpressung an diesem 
Licht an diesem Himmel, sage ich, etwas Hawai oder möchte 
in BURGUNDISCHEN GÄRTEN über Maszliebchen Erde .. was!
Flitzerei / plötzlicher Engel, habe diesmal versäumt 
die ersten Schwalben zu sichten in ihrer Inbrunst nicht wahr, 
diese Luftbeute, Wollust der Augen, ach ich KLEBE an diesem 
Leben an diesem LEBENDGEDICHT.

Geschrieben am 4.6.2000. Fünf Tage später starb ihr Partner Ernst Jandl.

Aus: Friederike Mayröcker, Gesammelte Gedichte 1939-2003. Hrsg. Marcel Beyer. Berlin: Suhrkamp, 2004, S. 692f

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