Ein Gedicht kein Tritt ins Gesäß

Eduard Mörike 

(* 8. September 1804 in Ludwigsburg, Württemberg; † 4. Juni 1875 in Stuttgart)

Ein Gedicht des jungen Goethe endet mit der Zeile: „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent!“ (mehr darüber). Der Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki konnte darüber gar nicht lachen. Vielleicht hatte er keinen Humor. Auf alle Fälle hat er da im Eifer ein ästhetisches Grundprinzip übersehen. Ein literarischer Mordaufruf ist Literatur und kein Mordaufruf. Es war vielleicht nicht immer klar, aber im Lauf der Literaturgeschichte haben Ästhetiker und Juristen diese Lektion gelernt. (Wohl nicht in jedem Land, wie – leider nicht zuletzt – der reale Mordaufruf gegen den Schriftsteller Salman Rushdie und die realen Morde an Schriftstellern in Stalins Sowjetunion und bis heute andernorts gezeigt haben.). Jedenfalls hat Eduard Mörike keinen Aufruf zur Selbstjustiz verfasst.

ABSCHIED

Unangeklopft ein Herr tritt abends bei mir ein:
»Ich habe die Ehr', Ihr Rezensent zu sein.«
Sofort nimmt er das Licht in die Hand,
besieht lang meinen Schatten an der Wand,
rückt nah und fern: »Nun, lieber junger Mann,
sehn Sie doch gefälligst mal Ihre Nas' so von der Seite an!
Sie geben zu, daß das ein Auswuchs is.«
»Das? Alle Wetter — gewiß!
Ei Hasen! Ich dachte nicht,
all mein Lebtage nicht,
daß ich so eine Weltnase führt' im Gesicht!«
Der Mann sprach noch verschiednes hin und her,
ich weiß, auf meine Ehre, nicht mehr,
meinte vielleicht, ich sollt' ihm beichten.
Zuletzt stand er auf; ich tat ihm leuchten.
Wie wir nun an der Treppe sind,
da geb' ich ihm, ganz froh gesinnt,
einen kleinen Tritt,
nur so von hinten aufs Gesäße, mit —
alle Hagel! War das ein Gerumpel,
ein Gepurzel, ein Gehumpel!
Dergleichen hab' ich nie gesehn,
all mein Lebtage nicht gesehn,
einen Menschen so rasch die Treppe hinabgehn!

Aus: Deutsche Gedichte. Von Walther von der Vogelweide bis Gottfried Benn (Piper Taschenbuch, Band 3151, 2001) Hrsg. von Hans Joachim Hoof, S. 413

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