Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
Sigune Schnabel
Es war der sechste Tag der Zerstörung
Am ersten Tag schuf Gott die Gräber,
hob sie aus und ließ sie trocknen
unter der Sonne.
Kinder spielten Weitsprung.
Sie flogen über Bergkämme und Flüsse.
Die Gräber lachten unter ihren Füßen.
Am zweiten Tag schufen die Menschen ein Mahnmal
für die Toten.
Gott schaute ihnen zu.
In der Nacht ist einer gestorben,
aber er ließ sich kaum
von den Lebenden unterscheiden.
Kurz nach Mitternacht kam er
als Speer.
Es war der sechste Tag,
und ein Vater zerteilte den Himmel.
Ein Junge rollte die Straße entlang.
Es wurde Abend und Morgen:
der siebte Tag.
Niemand wollte ruhn.
Aus: Jahrbuch der Lyrik 2023/24. Herausgegeben von Matthias Kniep und Karin Fellner. Frankfurt am Main: Schöffling, 2024, S. 179.
In diesem Jahrbuch stehen die Texte ohne Verfasserinnennamen. Ich lese darin, obwohl ich manche Texte schon kenne, und wenn einer gefällt (oder, wer weiß, missfällt), sehe ich im Inhaltsverzeichnis nach, von wem es ist. – Das erste Buch dieser Art, das ich las, war die Anthologie Transit, die Walter Höllerer 1956 herausgab. Professor Hans Jürgen Geerdts schenkte sie mir in den 80er Jahren, als ich ein junger Assistent war. Ich freute mich sehr, aber damals hatte ich eine andere Lesehaltung. Ich kannte viele der Autoren gar nicht und wollte mir einen Überblick verschaffen. Also schrieb ich mir erst mal mit Bleistift alle Namen in den Text hinein. Die Namen halfen mir damals, Schneisen in unbekanntes Terrain zu schneiden. So manchen Namen habe ich damals überhaupt zum ersten Mal gelesen und konnte mir manche einprägen. Beim Jahrbuch der Lyrik werde ich das nicht tun. Ich habe auch im Moment nicht vor, es von Anfang bis Ende zu lesen. Vielmehr erhoffe ich mir immer mal wieder eine interessante Begegnung beim Darinlesen.
Das ist ein richtig schöner Text. Er gefällt mir gut.
LikeLike
interessante neubetrachtung einer bekannten geschichte. danke fürs teilen!
LikeLike