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Heute vor 169 Jahren erschienen in der Zeitschrift „Revue de Deux Mondes“ 18 zuvor unveröffentlichte Gedichte von Charles Baudelaire unter dem hier erstmals verwendeten Titel Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen. Darunter war auch das Widmungsgedicht der späteren Buchausgabe (1857), Au Lecteur / An den Leser. – In der Neuausgabe von 1868 trug das Gedicht den Titel Préface / Vorwort und wurde um eine Strophe verkürzt. Die Kürzung wurde mit Pünktchen markiert, vermutlich war es Selbstzensur, oder Vorsicht des Verlags, weil diese Strophe gerade auf das Skandalon hindeutet, das nach Erscheinen der Erstausgabe zum Prozeß und zum Verbot von 12 Gedichten führte. Die 1868 ausgelassene Strophe wurde hier kursiv markiert.
Hier der Originaltext von 1857, die deutsche Fassung von Carlo Schmid (1947) und die Prosaübertragung von Friedhelm Kemp aus der Gesamtausgabe (1975).
Au Lecteur
La sottise, l'erreur, le péché, la lésine,
Occupent nos esprits et travaillent nos corps,
Et nous alimentons nos aimables remords,
Comme les mendiants nourrissent leur vermine.
Nos péchés sont têtus, nos repentirs sont lâches;
Nous nous faisons payer grassement nos aveux,
Et nous rentrons gaiement dans le chemin bourbeux,
Croyant par de vils pleurs laver toutes nos taches.
Sur l'oreiller du mal c'est Satan Trismégiste
Qui berce longuement notre esprit enchanté,
Et le riche métal de notre volonté
Est tout vaporisé par ce savant chimiste.
C'est le Diable qui tient les fils qui nous remuent!
Aux objets répugnants nous trouvons des appas;
Chaque jour vers l'Enfer nous descendons d'un pas,
Sans horreur, à travers des ténèbres qui puent.
Ainsi qu'un débauché pauvre qui baise et mange
Le sein martyrisé d'une antique catin,
Nous volons au passage un plaisir clandestin
Que nous pressons bien fort comme une vieille orange.
Serré, fourmillant, comme un million d'helminthes,
Dans nos cerveaux ribote un peuple de Démons,
Et, quand nous respirons, la Mort dans nos poumons
Descend, fleuve invisible, avec de sourdes plaintes.
Si le viol, le poison, le poignard, l'incendie,
N'ont pas encor brodé de leurs plaisants dessins
Le canevas banal de nos piteux destins,
C'est que notre âme, hélas! n'est pas assez hardie.
Mais parmi les chacals, les panthères, les lices,
Les singes, les scorpions, les vautours, les serpents,
Les monstres glapissants, hurlants, grognants, rampants,
Dans la ménagerie infâme de nos vices,
II en est un plus laid, plus méchant, plus immonde!
Quoiqu'il ne pousse ni grands gestes ni grands cris,
Il ferait volontiers de la terre un débris
Et dans un bâillement avalerait le monde;
C'est l'Ennui! L'oeil chargé d'un pleur involontaire,
II rêve d'échafauds en fumant son houka.
Tu le connais, lecteur, ce monstre délicat,
— Hypocrite lecteur, — mon semblable, — mon frère!
AN DEN LESER
Verirrung, Dummheit, Sünde, Lug erschüttern
Im Fleisch uns, legen auf den Geist die Hand.
Wir päppeln unseres Gewissens Brand
Wie Bettelleute Ungeziefer füttern.
Wir büßen feige; unsere Sünden hecken;
Wir nehmen für Geständnis Wucherpreis,
Begehn dann lustig neu verschlammtes Gleis
Im Wahne feile Tränen löschten Flecken.
Der Große Satan auf des Bösen Kissen
Erst lange die behexte Seele wiegt,
Und unsres Willens reiches Erz verfliegt
In Dampf vor dieses Alchimisten Wissen.
Der Teufel zieht die Fäden, die uns führen!
Vom Eklen nehmen wir noch Reize mit;
Gehn jeden Tag zur Hölle einen Schritt
Durch Stank und Nacht – und lassen uns nicht rühren.
Gleich den Verbuhlten ohne Geld, die fressen
Der alten Hure ausgeschundene Brust,
Ergaunern hehlings wir am Wege Lust,
Die wir wie alte Apfelsinen pressen.
Dicht wimmelnd wie die Maden in dem Darme
In unserem Hirn ein Volk von Teufeln schmaust;
Ein Atemzug – in unsre Lungen saust
Der Tod, Strom unsichtbar und leis im Harme.
Wenn Brand und Gift, Gewalt an Frauen
In unsres Schicksals jämmerlichen Riß
Noch nicht ihr spaßig Bild gestickt – gewiß,
Nur weil die Seelen, leider! sich nicht trauen ...
Doch unter den Schakalen, Skorpionen,
Den Affen, Geiern, Hündinnen in Brunst,
Dem Ungetier, das kläfft und brüllt und grunzt
Im Zwingerloch, wo unserer Laster wohnen,
Ist eins noch wüster, böser noch im Raffen!
Ist leise auch sein Schrei und träg sein Flug
Es lockert noch der Erde festen Fug
Und schluckt das All in eines Gähnens Klaffen:
Verdrossenheit! – Im Aug erzwungenes Weinen
Träumt es vom Block und saugt am Pfeifenrohr.
Du kennst es, Leser, mache Dir nichts vor,
Du Heuchler, o mein Bruder vor den Peinen!
Die Blumen des Bösen. Übertragen von Karl Schmid (=Carlo Schmid). (Zuerst Tübingen: Rainer Wunderlich, 1947) – Frankfurt/Main: Insel, 10. Aufl., 1988, S. 9f.
An den Leser
Dummheit, Irrtum, Sünde, Geiz hausen in unserm Geiste, plagen unsern Leib,
und wir füttern unsere liebenswürdigen Gewissensbisse, wie die Bettler ihr Ungeziefer nähren.
Störrisch sind unsre Sünden, unsre Reue schlaff; wir lassen unsere Geständnisse uns reichlich zahlen
und wandern fröhlich dann den Schlamm-Pfad wieder, zuversichtlich, als wüschen feile Tränen all unsre Flecken ab.
Satan der Dreimalgroße ist es, der auf dem Pfühl des Bösen lange unsern Geist wiegt, den verzauberten, und das reiche Metall unseres Willens löst dieser hocherfahrene Alchimist in Rauch auf.
Der Teufel hält die Fäden, die uns bewegen! Widriges scheint uns verlockend; mit jedem Tage tun wir höllenab einen weitern Schritt, doch ohne Grauen, durch Finsternisse voll Gestank.
So wie ein armer Lüstling, der den zerquälten Busen einer abgelebten Metze küßt und ißt, so im Vorbeigehn stehlen wir heimlich eine Lust uns, die wir auspressen fest wie eine altgewordene Orange.
Gedrängt und wimmelnd, gleich einer Unzahl Eingeweidewürmer, schwelgt in unsern Hirnen ein Volk von Dämonen, und atmen wir, so dringt in unsre Lungen, ein unsichtbarer Strom, der Tod herab, mit dumpfem Klageton.
Wenn Notzucht, Gift, Dolch, Brand noch nicht mit ihren hübschen Mustern den banalen Stickgrund unsrer jämmerlichen Geschicke zierten, so nur, weil es unsrer Seele, leider! dazu an Kühnheit fehlt!
Doch unter den Schakalen, den Panthern, den Hetzhündinnen, den Affen, den Skorpionen, Geiern, Schlangen, den Untieren allen, die da belfern, heulen, grunzen, kriechen in der ruchlosen Menagerie unserer Laster,
Ist eines häßlicher, und böser noch, und schmutziger! Ob es gleich keine großen Glieder reckt, noch laute Schreie ausstößt, zertrümmerte es gern die ganze Erde, und gähnend schluckte es die Welt ein;
Die Langeweile ists! Das Auge schwer von willenloser Träne, träumt sie von Blutgerüsten, ihre Wasserpfeife schmauchend; du kennst es, Leser, dieses zarte Scheusal, – scheinheiliger Leser, – Meinesgleichen, – mein Bruder!
Aus: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden. Herausgegeben von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. Hanser Verlag, München/Wien, 1975/1992. Nachdruck bei Zweitausendeins (8 Bände in 4) Band 3, S. 55/57
Hier gibt es stolze 7 Übersetzungen ins Englische (darunter von Robert Lowell).
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