Grabschrifft und Lobspruch

Heute ein visuelles Gedicht aus dem Jahr 1631. Es stammt von Johann Heinrich Schill aus Durlach bei Karlsruhe. Die digitale Deutsche Biographie nennt als Berufe „Dichter ; Jurist ; Linguist“ und als Lebensdaten 1615 – 1645. Er wurde also nur etwa 30 Jahre alt. Sein Gedicht ist eine Grabschrift auf eine Frau namens Barbara, so lautet die erste Zeile:

Hie ligt mit Frawen Barbara

(Ich habe nur zur besseren Lesbarkeit die Leerzeichen zwischen den Wörtern eingefügt). Hier zunächst das ganze Gedicht.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als bestünde das ganze Gedicht nur aus dieser einen Zeile, die von Zeile zu Zeile um einen Buchstaben nach links gerückt wird. Hier ein Teil des Textes, neu gesetzt und wie im Original ohne Leerraum zwischen den Wörtern.

HieligtmitFrawenBarbara
ieligtmitFrawenBarbaraT
eligtmitFrawenBarbaraTh
ligtmitFrawenBarbaraTha
igtmitFrawenBarbaraThab
gtmitFrawenBarbaraThabe
tmitFrawenBarbaraThabea

Man merkt jetzt schon, dass am rechten Rand ein anderer Text auftaucht, der hinter dem Namen der Verstorbenen Buchstabe für Buchstabe sichtbar wird. 6 Zeilen weiter kann man einen weiteren Frauennamen lesen, und in der letzten Zeile des Buchstabenquadrats ist kein einziger Buchstabe der Eingangszeile mehr vorhanden, aber dafür eine komplette zweite Zeile. Der gesamte Text ist also ein Zweizeiler, man kann bequem die erste und letzte Zeile so lesen:

HieligtmitFrawenBarbara
ThabeaJudithRuthvndSara

Ist es also ein Gemeinschaftsgrab, in dem mit Barbara auch Thabea, Judith, Ruth und Sara begraben sind? Aber vielleicht fällt uns jetzt auf, dass die Namen der zweiten Zeile allesamt in der Bibel vorkommen. Man kann es also vielleicht so lesen, dass die jetzt verstorbene Frau Barbara hier (im Grab liegt ja nur der sterbliche Teil) mit den frommen Frauen aus dem Alten Testament ruht. Wenn wir uns jetzt auf die Überschrift besinnen, war ja zweierlei angekündigt: Grabschrift (= Epigramm, Inschrift) und Lobspruch. Der Lobspruch wäre demnach in der ersten Zeile noch verschüttet und erscheint Buchstabe für Buchstabe, wenn man bemerkt, mit wem Frau Barbara „hier“ ruht. (Wir können davon ausgehen, dass die Leser von 1631 die Geschichten dieser Frauen wenn nicht aus eigener Lektüre der Bibel, dann doch aus den wöchentlichen oder je nach Frömmigkeit auch häufigeren Predigten des Pfarrers kannten. Die damals zehnjährige Sibylla Schwarz aus Greifswald zum Beispiel hätte sie bestimmt gekannt, wenn man den Lobreden auf die Frühverstorbene glaubt. Das tun wir, auch wenn in ihrem Werk nur der Name Judith vorkommt, dieser aber oft. Ich lese also den Lobspruch so, dass die Verstorbene nur körperlich „hier“ liegt, ihre unsterbliche Seele aber bei den Frommen im Himmel weilt. Oder kurz: dass sie fromm war.

So weit erst mal dazu. Die verehrten Leserinnen (kleines i, weil generisches Femininum, jeder ist mitgemeint) werden nun eingeladen, mit den Augen ein wenig im Visuellen des Gedichts herumzuspazieren. Da kann frau Entdeckungen machen. Liest man die Anfangsbuchstaben vertikal, ergibt sich bis zur vorletzten Zeile wieder der erste Vers, was ja nicht verwundert, weil immer ein Buchstabe links wegfällt. Anschließend kann man die letzte Zeile vertikal lesen. Also etwa so:






→→→→→→→

Oder so:

→→→→→→→




Oder auch so:

→→→→→→→

.

.

.

.

→→→→→→→

Wenn man das Innere einbezieht und Haken und Zickzack schlägt, ergeben sich, hat jemand errechnet, mehr als 4 Billionen Wege, um die beiden Zeilen des Gedichts zu lesen. Vielleicht als Meditierhilfe?

2 Zeilen, 8 und 9 Silben und zweimal 23 Buchstaben. Wenig Text und viel Raum.

Die Grabschrift wurde gedruckt, also nicht nur das Gedicht, sondern die ganze Leichpredigt. Als Druckschrift brauchte sie einen Titel, der nach damaligem Brauch sehr lang und sehr gewunden sein musste, hier der fast komplette Titel:

Creutz Saat / vnd Frewden Erndt / der wahren Kinder Gottes. Das ist: Christliche einfältige Leichpredig / genommen auß dem 5. vnd 6. vers. deß 126. Psalm. Bey Begräbnuß Weyland der Edlen vnd Tugendtsamen Frawen BARBARAE, Deß auch Edlen vnnd Hochgelehrten Herrn Johann Friderich Jünglers / beeder Rechten Licentiaten / vnnd Fürstl. Marggr. Bad. Ober: vnd KirchenRaths zu Carlspurg / etc hertzvielgeliebter Haußfrawen. Welche nach außgestandner lang beschwerlicher Kranckheit / Freytags den 28. Octobr. Anno 1631. Morgens vmb halb Sechs Vhr / in jhrem Erlöser Christo seeliglich eingeschlaffen / vnd Sontags den 30. dessen / mit grosser Volkreicher Leichprocession, ehrlich vnd Christlich zur Erden bestattet worden. Auß Gottes heyligem Wort für Augen gestellt / vnnd in der Statt: vnd Pfarrkirchen zu Durlach / fürgetragen worden / Von M Caspare Seemann / Pfarrern daselbsten. Getruckt zu Durlach / durch Andream Senfft / Jm Jahr 1631. 

Und man kann weitergehen. Zum Beispiel die Geschichten der vier biblischen Frauen einbeziehen. Für das Begräbnis ist besonders die erste, Tabea, interessant und folgen-, folgerungsreich. Handelt es sich doch um eine Frau, die gestorben und von den Toten erweckt worden ist. Hier die Stelle.

Apostelgeschichte 9:36-43 HFA

In der Stadt Joppe lebte eine Jüngerin von Jesus. Sie hieß Tabita*. Der Name bedeutet »Gazelle«. Tabita tat viel Gutes und half den Armen, wo immer sie konnte. Als Petrus in Lydda war, wurde sie plötzlich krank und starb. Man wusch die Tote und bahrte sie im oberen Stockwerk ihres Hauses auf. Joppe liegt nicht weit von Lydda. Die Gemeinde in Joppe schickte deshalb zwei Männer mit der dringenden Bitte zu Petrus: »Komm, so schnell du kannst, zu uns nach Joppe!« Petrus ging sofort mit ihnen. Als er angekommen war, führte man ihn in die Kammer, in der die Tote lag. Dort hatten sich viele Witwen eingefunden, denen Tabita in ihrer Not geholfen hatte. Weinend zeigten sie Petrus Kleider und Mäntel, die Tabita ihnen genäht hatte. Doch Petrus schickte sie alle hinaus. Er kniete nieder und betete. Dann wandte er sich der Toten zu und sagte: »Tabita, steh auf!« Sofort öffnete sie die Augen, sah Petrus an und richtete sich auf. Petrus reichte ihr die Hand und half ihr aufzustehen. Dann rief er die Gläubigen und die Witwen herein, die mit eigenen Augen sehen konnten, dass Tabita lebendig vor ihnen stand. Bald wusste ganz Joppe, was geschehen war, und viele fanden zum Glauben an den Herrn. Petrus blieb danach noch längere Zeit in Joppe und wohnte im Haus des Gerbers Simon.

HFA: Hoffnung für alle https://www.bible.com/de/bible/73/ACT.9.36-43.HFA

*) In anderen Übersetzungen Tabea.

Quelle des Gedichts: Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart in 10 Bänden. Herausgegeben von Walther Killy. Band 4. Gedichte 1600-1700. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge herausgegeben von Christian Wagenknecht. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2001, S. 72.

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