Festschrift für den Schatten

Gestern war der 80 Geburtstag des Dichters und langjährigen Hanserchefs Michael Krüger. Hier ein Gedicht aus seinem Band „Die Dronte“ (1985), für den er 1986 mit dem Huchelpreis ausgezeichnet wurde.

Michael Krüger 

(* 9. Dezember 1943 in Wittgendorf, Landkreis Zeitz)

Ein Naturforscher

1
Nur bei Tageslicht
soll er ihn führen:
der Herr wünscht alles zu sehen.
Jeden Stein am Wegesrand,
jedes Würmchen,
kurz: jede Schweinerei.

2
Der Herr sammelte
etwa dreitausend Pflanzen
in seinem Herbarium.
Mein lebendiges Gedächtnis,
pflegte er zu sagen,
das nie verblüht.

3
Den Himmel
betrachtete er selten,
selten das Fenster,
in den Himmel gezeichnet.
Er hielt wenig von der Mythologie.

4
Wir dürfen aber nicht das,
was wir nicht begreifen können,
aus dem Grunde,
weil wir es nicht begreifen können,
leugnen.

5
Gern erzählte er
von einem Kollegen,
der beim Anblick eines Pferdeschädels
wußte, wie die Natur
zu ordnen sei.

6
Die Welt wurde heller
unter dem Glas,
doch der Herr schrieb
eine Festschrift
für den Schatten.
Viel traute er
seinem Jahrhundert nicht zu.

7
Roß, Pferd, Gaul, Mähre:
zu viele Namen
erschweren die Ordnung.
Und die Ordnung
war selbst unter denen,
die einander zur Ordnung riefen,
nicht herzustellen.

8
»... er gab sich alle Mühe,
uns glaubhaft zu erläutern,
was ein Baum sei«,
notierte er. Es war die Zeit,
da Beobachtung dem Urteil
vorausging.
Über die Kindheit der Erde
sollten Knochen Rede stehen.

9
Schon war es nicht mehr möglich,
von allem Vorhandenen
Kunde zu erhalten.
Alles Entstehende
machte ihn bitter.

10
Sein Husten wurde lauter
und begrub ihn schließlich.
Im Koma sprach er
in fremden Sprachen,
meistens hawaiisch.

11
Wie eine Warnung
klang die Geschichte
der Einwohner von Los Velos,
die nacheinander Handwerk,
Künste, ja die Sprache
ihrer Väter verlernten.

12
Wo der gesittete Mensch
einwandert, verändert sich
vor ihm die Natur.
Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

13
Da er vor der Zeit arbeitete,
wurde er mißverstanden.
Nur sein Schatten blieb haften
auf einer zerfallenden Erde.

Aus: Michael Krüger: Die Dronte. Gedichte. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch, 1988, S. 14ff (zuerst 1985 bei Hanser)

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..