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Veröffentlicht am 7. Juni 2017 von lyrikzeitung
Werner Söllner
Villon unterm Galgen
Solang ich frei war, hielt sie mich gefangen.
Nun bin ich gut geschnürt, nun darf ich gehn.
Nichts ist zu wenig: sogar dies verstehn
zu viele. Wem das Hohelied vergangen,
der pfeift es von den Dächern. Notgesänge
aus jeder Spalte dieser Freudenwelt —
ein Narr wie ich, wem dieses Lied mißfällt,
wer (Narr! Wie ich!) mit viel zu loser Strenge
als Henker unterm Strang das Opfer spielt.
Frau Welt, du hast mich gut genug gestillt!
Ich trinke aus. Ein erstes Mal betrunken
von ungestilltem Durst nach eignem Sein.
Es widersteht, wer fällt. Papier der Stein,
auf dem ich steh. Er rollt. Ich bin versunken.
Aus: Werner Söllner: Kopfland. Passagen. Gedichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1988
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: L&Poe-Anthologie, Werner Söllner
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