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Hendrik Jackson postet auf lyrikkritik.de einen Text von 2003 über den russischen Lyriker Wiktor Iwaniv:
Mir wurde die Aufgabe angetragen, einige russische Gegenwartslyriker zu versammeln und zu übersetzen. Dabei stieß ich auf den fast gänzlich unbekannten jungen Autor Wiktor Iwaniv aus Nowosibirsk, dessen Gedicht „kamera“ meine Aufmerksamkeit erregte. Das Gedicht weist keine Interpunktion auf und zeichnet sich dadurch aus, daß viele Wörter jeweils vor wie auch rückbezogen werden können, innerhalb einer Zeile oder im fortlaufenden Zusammenhang mit der jeweils nächsten Zeile zu lesen sind. Eine mehrfache Lesart findet sich auch inhaltlich wieder. Das beginnt schon bei der Überschrift: kamera. (das ganze Gedicht findet man hier)
Das Wort hat drei Bedeutungen: 1. Kamera (Film, Foto, Video) 2. Zelle, Kammer 3. Blase (vom Fußball). Im ersten Fall ist die russische „kamera“ also eine Art Behälter, oder wie man eben auch für die deutsche Kamera sagt: ein Gehäuse – für Bilder; im zweiten Fall eine Behausung, aber ebenso gehäuseartig relativ klein und kompakt und im dritten, seltenen Fall eine selbst umschlossene Ummäntelung für die Luft, die den Ball trägt, weicher als die ersten beiden „Kapseln“, aber um nichts weniger „luftdicht“, abgeschlossen, und in einem gewissen Sinne gleichförmigen geometrischen Grundformen entsprechend (Quader, Würfel, Kugel etc.)
Die dritte Bedeutung schien etwas abwegig, ich hielt mich zunächst an die ersten beiden.
Ich übersetzte:
Kamera
Im angestrahlten wald war ein süßes singen zu hören
die stimme Lemeschews drang ans ohr irgendwoher
trug ein windstoß wörter verdrehte sie ein kanarienvogel
imitierte sich selbst von unten wie durch eine platte
klopfte regelmäßig geräusch vom aufprallen eines balls
zusammen mit dem gesang sich vereinend wie
wie in einer einzigen kehle
gefiederte kinder liefen voraus drehten sich nicht um
oder führten ihre truppen zurück bis an den Rahmen
jedes von ihnen und nicht nur volodja pinigin
als wüßte er es nicht er steht auf schlammigem grund
die schlange glitt schnell durch die reihen erstarrter kinder
so hätte es aussehen können für den
der sie so durch das Schlüsselloch beobachtet hätte
der klopflaut des balls hörte momentlang auf wie kurzes
kuckucksheulen die quälenden tage zählt
nur jene werden mich verstehen die selbst einmal diesen
im flug herausgepressten schrei der kamera hören sehen mußten
eng zusammengepferchte kinder ihre blicke zur erde gewandt
hinab wo der von schrecklichem schluckauf befallene volodja
auf allen vieren kroch wie ein toter aus der erde
eines anderen morgens durch hingekleckste lichtflecken
ging ich erinnerte mich an zwei namen Wolodja und Wladik
ich nahm damals an der parade teil und schaute den pionieren
nach sie trugen pfingstrosen im porträt des toten führers
Vielleicht eine Filmszene? Ein Film im Wald? Was macht der Kanarienvogel hier? Vielleicht handelt es sich doch um eine Zelle, eine kleine Kammer? Rätselhaft. Jetzt war ich zum ersten Mal irritiert. Eine Platte im Wald? Sicherlich keine Photoplatte. Und dann ein Ball? Eine russische Freundin wies mich auf das Kinderbuch „Unterirdische Kinder“ hin, in dem es um unter der Erde, in Erdhöhlen lebende Kinder ging. Sie sagte auf ihre russische trockene Art: „Klar, sie spielen dort unter dem Wald mit einem Ball, kein Problem.“ Platte, Schallplatte, Photoplatte, Zelle, Kamera… worum handelt es sich?
Das Ende gab auch keinen Aufschluß. Interesse halber schrieb ich dem Autor. Er erklärte kurzerhand, daß die Kinder unter der Erde hier nichts zu suchen hätten und alles würde auf dem Doppelsinn von kamera und „Blase“ (des Fußballs) beruhen, kurzum ein aufgenommenes Fußballspiel. Nun ist es mehr als heikel, den Erklärungen eines Autors beim Übersetzen zu folgen, zumal bei einem so vieldeutigen Gedicht. Dennoch will ich gerade dies anführen, um zu zeigen, daß man die Anmerkungen des Autors nicht ganz negieren soll, zumal, wenn das Gedicht dann eine gewisse Schlüssigkleit gewinnt. Ich übersetzte neu und als erstes die Überschrift, um diese Doppeldeutigkeit zwischen Fußball und Kamera herauszustellen. „Gehäuse“ fiel mir als erste Verbindung zwischen Fußball und Photo ein, allerdings schien mir das nicht geläufig genug, eher schon die Redewendung „etwas im Kasten haben“ und „Kasten“ für Fußballtor.
im kasten
Im angestrahlten wald war ein süßes singen zu hören
die stimme Lemeschews drang ans ohr irgendwoher
trug ein windstoß wörter verdrehte sie ein kanarienvogel
imitierte sich selbst von unten wie durch eine platte
klopfte regelmäßig geräusch vom aufprallen eines balls
Nun wurde alles klar, oder? Es folgen die aus der Kamera-Ferne (Vogelperspektive?) bunten (wie Federn) Trikots der „Truppen“:
zusammen mit dem gesang sich vereinend wie
wie in einer einzigen kehle
gefiederte kinder liefen voraus drehten sich nicht um
oder führten ihre truppen zurück bis
Jetzt endlich das Wort: Gehäuse für die „Rahmen“, den Bildausschnitt und das Tor zugleich. Gehäuse – Kern – Zelle. Zelle: Da war sie die russische „kamera“ in ihrer zweiten Bedeutung. Überwachtes Wohnen, Gefängnis. Gitter – Netz – Im Kasten, im Netz, und also wieder: Fußball, aber auch: Kern, Frucht, Netz mit Früchten, Hülse, Worthülse, die verschiedene Bedeutungskerne beinhaltet, aber sich aufbläht zur Blase: Bildblase, kein sachliches Kamerabild, nicht nur ein Fußballreport in jedem Fall. Weiter:
an das gehäuse
jedes von ihnen und nicht nur volodja pinigin
als wüßte er es nicht er steht auf schlammigem grund
die schlange glitt schnell durch die reihen erstarrter kinder
so hätte es aussehen können für den
der sie so durch das Schlüsselloch beobachtet hätte
der klopflaut des balls hörte momentlang auf wie kurzes
kuckucksheulen die quälenden tage zählt
nur jene werden mich verstehen die selbst einmal diesen
im flug herausgepressten schrei
und hier konnte es jetzt nicht mehr Kamera oder Zelle heißen, hier war die dritte Bedeutung von „kamera“ gefragt: Pocke, Pille, nein, denn dann fiele das fliegende Auge der Kamera weg, wie das vereinen? Mir fiel eins ein: Ich quetschte das Augen direkt in den Sucher der Kamera – und fand – die puPille, allerdings: ein im Flug herausgepresster Schrei der puPille, hmm, ich weiß nicht… dann lieber Blase als Fußballblase, Bildblase, zumal eine gepresste schreiende Blase, das hat etwas Comicartiges und läßt sich vorstellen.
der blase hören sehen mußten
eng zusammengepferchte kinder ihre blicke zur erde gewandt
hinab wo der von schrecklichem schluckauf befallene volodja
auf allen vieren kroch wie ein toter aus der erde
Fußball kann grausam sein, zumal aus der Höhe. Aber wird hier wirklich das Stadion zur geschichtlichen Kammer, aus dem es kein Entrinnen gibt? Kriegssprache und das Ticken wie von Uhren oder Bällen deutet die Vergangenheit oder Zeitlichkeit an, eine Vergangenheit, die (für den jungen Autor) medial (durch Bilder) verdoppelt wird, was direkt an den Bilderkult der alten Zeit anschließen mag… und dennoch bleiben einige Fragen offen, doch staunen wir nicht länger, sondern folgen dem Autor zum Ende und schauen den Wendungen des Gedichts nach wie jene Pioniere…
eines anderen morgens durch hingekleckste lichtflecken
ging ich erinnerte mich an zwei namen Wolodja und Wladik
ich nahm damals an der parade teil und schaute den pionieren
nach sie trugen pfingstrosen im porträt des toten führers
Hendrik Jackson
Dieser kleine Text entstand 2003 anlässlich der Herausgabe einer Sammlung von russischen zeitgenössischen Gedichten. Damals lernte ich den noch völlig unbekannten sibirischen Dichter Iwaniv kennen. Am 25. 2 2015 nahm sich der Dichter, inzwischen russlandweit bekannt und geschätzt, das Leben. Deswegen sei hier das Dokument einer ersten Annäherung und beginnenden Freundschaft sowie eines literarischen Austausches (Iwaniv hat mich ins Russische übersetzt und wurde von der Stiftung Brandenburger Tor nach Berlin eingeladen) publiziert. Die ganze Übersetzung findet man auf parlandopark, den russischen Text auf vavilon.ru
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