105. „Die Zeit“ und „Die deutsche Literatur“

Es gibt Leute, die meinen, „Die Zeit“ hat ein Problem mit der Gegenwartsliteratur – ein Kompetenzproblem. Da setzt sich schon mal die Politikredaktion an die Spitze der politischen Lyrik nach dem bewährten Rezept, mit Monika Rinck und Ann Cotten wirds schon gut gehen. Es kam für fast jeden Geschmack was heraus, aber politische Lyrik? Wollten sie das beweisen? Kannten sie das Problem? Vorher? Nachher? Schweigen. Und überhaupt. Jetzt drehn sie den Spieß einfach um. Die Gegenwartsliteratur hat ein Problem. Ist sie doch, wie jeder Journalist genau weiß, nach Gusto entweder zu brave oder zu perfekte Literaturinstitutsliteratur. Wozu das ausforschen, wenn man es wegforschen kann (Achtung, Isotopiebruch). Auszug aus der „Zeit“ von gestern:

Die deutsche Literatur hat jetzt ein Problem. Das Problem besteht aber nicht darin, dass ein Vers des Rappers Haftbefehl auf einem CSU-Wahlkampfplakat verwendet wurde, das ist nur peinlich, sonst nichts. Das Problem besteht in der Herausforderung, die der rappende Verseschmied für die zeitgenössische Dichtung darstellt. Haftbefehl, bürgerlich Aykut Anhut, 28 Jahre alt, kommt aus Offenbach, einer Stadt, die Kulturbürgern bislang als zu umfahrendes Krisengebiet vor Frankfurt galt. Und ausgerechnet dort soll der Quell sprachlicher Innovation sprudeln?

(…) Pädagogische Lesarten versagen vor dieser Rollenprosa. Es ist Literatur, und deshalb sind deutsche Autoren jetzt in der Klemme: Sie müssen sich zukünftig an der Sprachmacht dieses Deutschkurden abarbeiten.

(…) In Haftbefehl-Songs werden Plattenverträge mit Genitalien unterzeichnet; dass die Libido ganz in der Profiterzeugung aufgehen kann, wenn man nur kapitalistisch genug orientiert ist, hat wohl kaum ein Dichter so drastisch formuliert. Oder das hier: »Wasch die Hände mit Evian und pisse Dom Pérignon.« (…)

Was an Haftbefehl fasziniert und verstört, das ist sein Talent. Die sprachliche Verwegenheit lässt sich nicht in Literaturinstituten züchten. »Zeit ist Geld, Habibi, Tipp-Ex auf Rammstein-Vertrag, und gib mir einfach die Kopie.« (…) Allen, die Literatur lieben: Gebt euch die Kugel. / Daniel Haas, Die Zeit Nr. 49, S. 54.

Alles klar? Kulturbürger, gebt Kugel! Und auf Rapkonzerten gibts Zeit-Jahresabonnements als Eintrittskarte. Dann klappts auch mit der „Zeit“.*

*) Nein, kein Kommentar über Rap. Nur über „Zeit“. Denn auch „Zeit“ ist Geld, Habibi.

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