100. Selma Merbaum

Sie war eine Cousine Paul Celans. Mit ihm war sie in einer zionistisch-sozialistischen Jugendgruppe aktiv, zu Hause in Czernowitz. Am 16. Dezember 1942 starb Merbaum* im ukrainischen NS-Zwangsarbeitslager Michailowka, kurz vor dessen Befreiung durch die Rote Armee, am Flecktyphus. Sie wurde nur 18 Jahre alt.

Kurz vor ihrem Ende schrieb sie: „Ich möchte leben. / Ich möchte lachen und Lasten heben / und möchte kämpfen und lieben und haßen / und möchte den Himmel mit Händen faßen / und möchte frei sein und atmen und schrei’n. / Ich will nicht sterben. Nein: / Nein.“

58 ihrer handschriftlichen hinterlassenen Gedichte existieren noch und Marion Tauschwitz hat sie transkribiert.** Eine Stärke des Buches liegt darin, dass die Autorin im biographischen Teil immer wieder aus Merbaums Gedichten zitiert und auf ihren vollständigen Abdruck weiter hinten verweisen kann. Selma Merbaum wird wie der vier Jahre ältere Celan und Rose Ausländer heute zur Weltliteratur gezählt. / Matthias Dohmen, Vorwärts

Marion Tauschwitz: „Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Biografie und Gedichte. Mit einem Vorwort von Iris Berben“. Mit zahlreichen Abbildungen. Berlin: Verlag zu Klampen,  2014, 349 Seiten, 28,00 Euro. ISBN 978-3-86674-404-2 (EPub 20,99 €)

*) Warum Selma Meerbaum-Eisinger jetzt „Selma Merbaum“ heißt, erklärt eine informativere Besprechung von Florian Hunger im „Psychosemitischen Buchblog„:

Die langjährige Vertraute und allerseits anerkannte Biographin der deutsch-jüdischen Lyrikerin Hilde Domin (1909-2006), Marion Tauschwitz, hat sich in langjähriger gewissenhafter Reche der ebenso mühseligen wie verdienstvollen selbstgestellten Aufgabe gewidmet, anhand historischer Fakten und Zeitzeugenberichten sowie gut dokumentierter Aussagen von überlebenden Weggefährten, Freunden und Bekannten der ermordeten Dichterin eine nahezu lückenlose, ausführliche literarische Lebensbeschreibung von Selma Merbaum zu erarbeiten, die mit ihrem umfangreichen, akribisch zusammengestellten Anhang nicht nur wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, sondern auch dem unvorbelasteten, lediglich am tragischen Schicksal der talentierten Kusine von Paul Celan interessiertem Leser eine ausgesprochen faktenreiche und fesselnde, mitunter erschütternde Lektüre bietet. (…)

Eines der unspektakulärsten, jedoch gleichzeitig auch wichtigsten grundsätzlichen Resultate der Recherchearbeit von Marion Tauschwitz ist eine durch sorgfältige Prüfung der erhalten gebliebenen offiziellen Registereinträge sowie durch Schul- und Deportationslisten eindeutig zu belegende, endgültige Klärung der Namensverhältnisse der jungen Dichterin: während bisherige Veröffentlichungen von „Meerbaum“ oder „Meerbaum-Eisinger“ (nach dem Stiefvaternamen) ausgingen, ist nun zweifelsfrei die endgültige Lesart „Merbaum“ bestätigt – eine andere Schreibweise tauchte in offiziellen Dokumenten offenbar niemals auf. Erstaunlich, wie Selma Merbaums leiblicher Vater, ein Schuh-Einzelhändler aus ärmlichen Verhältnissen, der an Tuberkulose starb, als seine Tochter gerade erst ein Jahr alt war, durch eine grundsätzliche Entscheidung unbewusst den Keim für Selmas Liebe zur deutschen Sprache legte, als er sich nämlich nach dem Ersten Weltkrieg für ein Leben in der deutschsprachigen Lokalmetropole Czernowitz entschied, weil er sich in der deutschen Sprache heimischer fühlte als im Rumänischen, Polnischen oder Jiddischen.

Sprecht Rumänisch! Auf Korridoren und in Klassenzimmern forderten überdimensionale Plakate die Einhaltung des Gebots ein. Eigens dafür eingestelltes Personal patrouillierte während der Pausen mit kleinen Reitgerten durch die Gänge, um notfalls mit Gewalt durchzusetzen, was das Wort nicht erreicht hatte. Mit Fantasie und Einfallsreichtum schafften die Mädchen sich kleine Fluchten und übertölpelten die Kontrolleure: Sie hängten deutschen Wörtern kurzerhand rumänische Endungen an und hatten eine Sprache, die nur sie verstanden.

Noch eine Mitteilung des Verlages:

In dieser spannenden, sprachlich einfühlsamen und wissenschaftlich fundierten Biografie hat Marion Tauschwitz das Leben der jungen Dichterin rekonstruiert und alle ihre Gedichte nach den Originalhandschriften neu übertragen

**) In bisherigen Ausgaben waren 57 überlieferte Gedichte enthalten.

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