102. Bericht aus Istanbul

Demonstrationen finden nur noch in kleinem Umfang am nahegelegenen Galatasaray-Platz auf der Mitte der Istiklal Caddesi statt, und sobald ein paar Leute sich versammeln, Transparente zeigen, Slogans rufen, baut sich die Polizei vor ihnen auf: Wasserwerfer, Mannschaftsbusse, Gewehre für Plastikgeschosse und Tränengasgranaten im Anschlag. Das Drohpotential ist permanent sichtbar.

Mitte Dezember lässt man eine kleine Demo gewähren, doch als die Kundgebung vorbei ist und die Gruppe sich auflöst, schlägt die Polizei ohne Vorwarnung zu, jagt eine Handvoll Protestler die Gassen zum Tarlabasi Boulevard hinab und ballert auf der vierspurigen Straße mit Tränengas um sich. Eine Woche später kommen rund zweihundert Menschen im Gezi-Park zusammen, um der Toten vom Sommer zu gedenken. Sie werden mit Tränengas und Wasserwerfern verjagt, einige werden vor dem Divan Hotel verhaftet. Im Sommer hatten dort Hunderte Schutz gefunden. Die Koc Holding, die das Hotel betreibt, hat nun die Steuerfahndung am Hals. Erdogans Retourkutsche für Zivilcourage.

Die Stimmung unter jenen, die im Sommer so voller Hoffnung auf den Straßen für mehr Demokratie eintraten, wirkt resigniert. Jede kleine Demonstration wird von der Polizei attackiert, um zu verhindern, dass aus 20 doch wieder 2000 werden, wenn man sie in Ruhe lässt. Gegen hunderte Gezi-Protestler wird Anklage erhoben, immer wieder gibt es Razzien und Verhaftungen, Journalisten werden gefeuert oder massiv unter Druck gesetzt, in keinem Land der Welt sitzen laut Reporter ohne Grenzen so viele Journalisten in Haft wie in der Türkei, nicht einmal Iran und China können da mithalten. / Gerrit Wustmann, heise online

One Comment on “102. Bericht aus Istanbul

  1. Passt leider auch zu den Postings davor. Ägypten, Iran, Türkei. Moral, sexuelle Belästigung, Dichter bedroht und verhaftet, freie Meinungsäußerung bestraft und behindert.

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