96. Krankhaft oder Pindar

Wübben führt den Psychiater als Sprachkritiker und Protophilologen ein, einen neuen Typus, der sich nicht mehr über Schädel und Anstaltsinsassen beugt, sondern in Briefen und Handschriften, Romanen und Gedichten Indizien der Entrückung sucht. Der Schulterschluss von Psychiatrie und Philologie ist eine Mesalliance mit oft irrwitzigen Zügen. Einem spröden Realitätssinn verpflichtet, bemäkeln die psychiatrischen Sprachdiagnostiker den hohen Dichterton, wo sie nur können. Jede syntaktische und lexikalische Eigenheit ist irrsinnsverdächtig. Wo vorher Genie waltete, sieht man Zerfahrenheit, Sprachverwirrtheit, zielloses Schweifen. Schon orthographische Unregelmäßigkeiten gelten als Vorboten des Wahns.

Wübben führt die Dissonanz auf das anachronistische Wertungssystem zurück. Sie spricht vom Klassik-Pakt. Die Psychiater hätten ihre engen stilistischen Normen von Autoren der Weimarer Klassik übernommen. Die Spuren der Avantgarde mussten sie da verkennen. Für das Assoziative und Klangliche in der modernen Dichtung hatte man weder Norm noch Organ. Stattdessen versuchte man, mit assoziationspsychologischen Experimenten jeden Abweg vom korrekten Gedankengang zurechtzurücken. Neu an der psychiatrischen Pathoskritik war, dass sie nicht mehr an Verstand und Vorstellungskraft ansetzte, sondern am Gehirn.

Eine der wegweisenden Gestalten in diesem Prozess ist die Gründerfigur der Psychopathologie, Emil Kraepelin. An Kraepelin verfolgt Wübben beispielhaft den Übergang von der metaphorischen zur objektiven klinischen Sprache. Was Kraepelin für Wübbens Absicht aber besonders interessant macht, ist sein Interesse an der Lyrik als Diagnoseinstrument. Obwohl und gerade weil ihm jeder Formsinn fehlt – schon eine Satzkonstruktion wie „Ferner Länder Städte“ war ihm verdächtig -, bringt er zur Jahrhundertwende das Gedicht in den Schraubstockgriff der Psychiatrie.

Der fulminante Höhepunkt des Kampfs zwischen den Kulturen wird mit Hölderlin erreicht. Hier trafen die diametralen Erkenntnishaltungen mit voller Wucht aufeinander. Die Rede ist von der Pathographie, die der Tübinger Psychiater Wilhelm Lange-Eichbaum zu Jahrhundertbeginn verfasste und die auf unfreiwillige Weise maßgeblich für das moderne Hölderlin-Bild wurde. In Lange-Eichbaums kunstferner Interpretation trifft jede einzelne von Hölderlins mittleren Hymnen von „Patmos“ bis „Germanien“ das Wahnsinnsverdikt.

Der Psychiater schmäht sie als „ausscheidungen seiner geschwülste und faulen säfte“. Neuschöpfungen wie „Lebendigstewige“ sind ihm leeres Wortgeklingel, „An Neckars Weiden“ fehlt ihm der Artikel, Hymnen sind ihm zu hymnisch, Abstrakta in gefährlicher Nähe zum Ideen-Platonismus, ein springender Gedankengang gilt als Zerfall der Autorregie, manchmal genügt schon eine krakelige Handschrift für den Krankheitsverdacht. Kein Vers ist hier sicher.

Das neue antikisierende Kompositionsprinzip, das sich in diesen Versen ankündigt, muss diesem formblinden Realismus entgehen. Der Weg in die Moderne bleibt zunächst verschlossen. Wübbens Pointe liegt nun darin, dass ausgerechnet der schulmeisterliche Psychiater unwissentlich den entscheidenden Hinweis für die moderne Hölderlin-Philologie gab. Bei der Analyse eines Briefes waren ihm syntaktische Merkmale aufgefallen, die er als Zeichen der Zerfahrenheit wertete, während sie der Hölderlin-Enthusiast Norbert von Hellingrath, der die Pathographie las, als Vorbote eines neuen Stils erkannte, einer neuen „Sangart“, von der in dem Brief auch explizit die Rede war: dem Pindarstil. / Thomas Thiel, FAZ 29.10.12

Yvonne Wübben: „Verrückte Sprache“. Psychiater und Dichter in der Anstalt des 19. Jahrhunderts. Konstanz University Press, Konstanz 2012. 333 S., Abb., geb., 39,90 Euro.

One Comment on “96. Krankhaft oder Pindar

  1. Hölderlins „Patmos“ geisteskrank??? Das ist hochkomplexe Philosophie, die versinnbildlicht wird. Z.B. „Patmos“ wird gedichtet, der Ort, an dem das antike Griechentum mit der Überlieferung Christi zusammentraf. Ziel ist es, die „getrennten Gipfel“ des abendländischen Denkens (Christentum u. Antike) zu verbinden! Dazu braucht man den Mut des „Adlers“, geistige „Fittige“ und „reines Wasser“ aus den Quellen der eigenen christlichen Überlieferung, ein „Genius“ muss einen leiten! Nur so kann die Zeit der spirituellen „Finsternis“ der „Söhne der Alpen“ überwunden werden…

    (…) Im Finstern wohnen
    Die Adler und furchtlos gehn
    Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg
    Auf leichtgebaueten Brücken.
    Drum, da gehäuft sind rings
    Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten
    Nah wohnen, ermattend auf
    Getrenntesten Bergen,
    So gib unschuldig Wasser,
    O Fittige [Flügel] gib uns, treuesten Sinns
    Hinüberzugehn und wiederzukehrn.
    So sprach ich, da entführte
    Mich schneller, denn ich vermutet,
    Und weit, wohin ich nimmer
    Zu kommen gedacht, ein Genius [… nämlich nach Patmos]

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