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Ein Gedicht des Nobelpreisträgers – nein, nicht Grass – Winston Churchill sorgt für Medienaufmerksamkeit. Wie in jenem Fall ist es eher ein Medien- als ein Literaturereignis. (Wie schön wäre es, wenn Gedichte als Gedichte Schlagzeilen machten – ach, die DDR wollen wir nicht zurückwünschen, da gab es in den 60ern eine wochenlange Debatte um ein Gedicht von Karl Mickel („Der See“), die mit einem Machtwort des führenden Experten für ästhetische Fragen beendet wurde *.)
Die Experten sagen uns was wir schon ahnten: „Führer und Rhetoriker, kein Dichter“ (Robert Potts). – „Schwerfüßig“ (Andrew Motion).
Hier ein Auszug:
Extract from „Our Modern Watchwords“
I
The shadow falls along the shore
The search lights twinkle on the sea
The silence of a mighty fleet
Portends the tumult yet to be.
The tables of the evening meal
Are spread amid the great machines
And thus with pride the question runs
Among the sailors and marines
Breathes there the man who fears to die
For England, Home, & Wai-hai-wai.
II
The Admiral slowly paced the bridge
His mind intent on famous deed
Yet ere the battle joined he thought
Of words that help mankind in need
Words that might make sailors think
Of Hopes beyond all earthly laws
And add to hard and heavy toil
the glamour of a victim(?) cause
So. Und ich geb mir ein Antidot.
Karl Mickel
Der See
See, schartige Schüssel, gefüllt mit Fischleibern
Du Anti-Himmel unterm Kiel, abgesplitterte Hirnschal
Von Herrn Herr Hydrocephalos, vor unsern Zeitläuften
Eingedrückt ins Erdreich, Denkmal des Aufpralls
Nach rasendem Absturz: du stößt mich im Gegensinn
Aufwärts, ab, wenn ich atemlos nieder zum Grund tauch
Wo alte Schuhe zuhaus sind zwischen den Weißbäuchen.
Totes gedeiht noch! An Ufern, grindigen Wundrändern
Verlängert sichs, wächsts, der Hirnschale Haarstoppel
Borstiges Baumwerk, trägfauler als der Verblichene
(Ein Jahr: ein Schritt, zehn Jahr: ein Wasserabschlagen
Ein Jahrhundert: ein Satz). Das soll ich ausforschen?
Und die Amphibien. Was sie reinlich einst abschleckten
Koten sie tropfenweis voll, unersättlicher Kreislauf
Leichen und Laich.
……………………….Also bleibt einzig das Leersaufen
Übrig, in Tamerlans Spur, der soff sich aus Feindschädel-
Pokalen eins an (“Nicht länger denkt der Erschlagene”
Sagt das Gefäß, “nicht denke an ihn!” sagt der Inhalt).
So faß ich die Bäume (“hoffentlich halten die Wurzeln!”)
Und reiße die Mulde empor, schräg in die Wolkenwand
Zerr ich den See, ich saufe, die Lippen zerspringen
Ich saufe, ich saufe, ich sauf – wohin mit den Abwässern!
See, schartige Schüssel, gefüllt mit Fischleibern:
Durch mich durch jetzt Fluß inmitten eurer Behausungen!
Ich lieg und verdaue den Fisch
Karl Mickel: Vita nova mea. Mein neues Leben. Gedichte. Berlin u. Weimar: Aufbau Verlag, 1966. Seite 14f.
*) Hans Koch (geb. 1927) war Multifunktionär und Professor für marxistische Kultur- u. Kunstwissenschaft am Institut (später Akademie) für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED. Im Herbst 1986 erhängte er sich im Wald. In dem Gedicht „Die dunklen Orte“ schrieb Volker Braun: „Im Hochwald hängt Herr Koch / In unästhetischem Zustand“. Volker Braun: Der Stoff zum Leben 1-3. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1990, S. 76.
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