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Im November 1950 wurden in Leningrad, dem heutigen Sankt-Petersburg, zwei Männer Anfang zwanzig zu jeweils fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Sie wurden in westsibirische Wälder abtransportiert, Holz fällen. Boris Pawlinow und Ruslan Bogoslowski hatten laut Anklage versucht, ‚die sowjetische Jugend moralisch zu verderben‘. Sie hatten verpönte Musik aus dem Westen unters Volk gebracht. ‚Boogie Woogie Bugle Boy‘ von Andrews Sisters, ‚It Ain’t Good For Me‘ von Asa Harris, ‚When It’s Sleepy Time Down South‘ von Louis Armstrong.
Die beiden betrieben ein geheimes Tonstudio für verbotene Musik, und mangels geeigneter Tonträger erfanden sie einen Weg, ihre Musik auf ausgedienten Röntgenbildern zu verbreiten.
Die weichen, nicht immer ganz runden Scheiben, auf denen meistens noch lädierte Schädel, Rippen, Handgelenke oder Kniescheiben zu erkennen waren, ließen sich leicht zusammenrollen und im Ärmel verstecken. ‚Musik auf den Knochen‘, wie der Schwarzmarkt bald hieß, wurde zum Tonträger einer Generation…
Nach Stalins Tod kamen die beiden vorzeitig frei. Pawlinow wurde unter dem Namen Taigin ein Samisdat-Autor, -Erfinder und -Verleger:
Taigin, geboren 1928, starb vor fünf Jahren in Sankt Petersburg und ließ seine Asche über der Newa zerstreuen. Seine jüngeren Freunde erinnern sich vor allem an den Dichter und Verleger Taigin, denn ab den sechziger Jahren widmete er sich mehr der verbotenen Literatur als der Musik. Mit seinem Hausverlag ‚Be-Ta‘ begründete er die Samisdat-Tradition in der Sowjetunion. Doch wer Ende der vierziger Jahre jung war, erinnert sich an Taigin als einen Pionier der Knochen-Musik.
/ Tim Neshitov, Süddeutsche Zeitung 19.1.
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