109. Dichter … und Minderdichter

Rezensent Peter Hamm hat einen empfindlicheren Magen als Anthologist Wulf Kirsten, ist aber tolerant:

Dass Kirsten «Stimmenvielfalt» wichtiger war als «Auslese», dokumentiert bereits der riesige Umfang seines Unternehmens: Auf 1120 Seiten werden fast 1000 Gedichte von 363 Dichtern präsentiert! Bedenkt man die wenigen lyrischen Höchstleistungen, die uns vom gesamten 19. Jahrhundert geblieben sind, scheint das des Guten (und oft auch nur Gutgemeinten) entschieden zu viel. Nimmt man Kirstens Anthologie aber als das, was sie primär sein will, ein poetischer Spiegel der Zeitgeschichte, leuchtet solche Üppigkeit schon eher ein. Wie brutal die Geschichte in dem von Kirsten abgesteckten Zeitraum nicht nur viele Gedichte dominiert (und deformiert), sondern auch die Lebensschicksale ihrer Dichter bestimmt hat, belegt bereits die erschütternde Tatsache, dass fast ein Drittel von ihnen (103) aus dem deutschen Sprachraum vertrieben und fast ein halbes Hundert in einem deutschen KZ ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurden.

Und hebt Kirstens Entdeckerlust hervor:

Kirsten ist ein passionierter Ausgräber und Wiederentdecker, und was an seiner Anthologie als Erstes auffällt, sind die vielen völlig unbekannten oder nur noch schattenhaft vorhandenen Dichternamen, denen man hier begegnet. Fabelhafte Funde macht Kirsten bei den sogenannten Minderdichtern, denen manchmal nur mit einem einzigen Gedicht gelang, ihre poetischen Grenzen zu sprengen, ob das nun der in die USA emigrierte und dort als Kabelbote arbeitende Wiener Fritz Brainin ist («Letzte Fahrt eines Weinfuhrmanns») oder der als Invalide aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrte Hannoveraner Zeitungsausträger und Dachdecker Franz Johannes Weinrich («An die Schneider von Paris»), ob der Tabakhändler Karl Schloss aus Alzey, der schon 1905 prophetisch sein Auschwitz-Schicksal beschwor («Die Blumen werden in Rauch aufgehn»), oder Carl Friedrich Wiegand, ehemaliger Prinzenerzieher im Hause Hessen und späterer Mitbegründer der Zürcher Volkshochschule, der in einem grellen Totentanz das riesige Heer der sinnlos Gefallenen aufmarschieren lässt («Die Ehrenlegion»).

Verblüffend auch manche Gelegenheitsgedichte von Autoren, die nur durch ihre Prosa oder sogar nur durch ausserliterarische Aktivitäten bekannt wurden, darunter etwa ein «Sieh mich gebeugt» überschriebenes Gedicht von Otto Weininger, in dem der 1903 dreiundzwanzigjährig aus dem Leben geschiedene Verfasser von «Geschlecht und Charakter» kaum verklausuliert seine Furcht vor der Syphilis artikuliert, oder ein Gedicht auf Kafkas «Prozess» des Religionsphilosophen Gershom Scholem, das dieser einem Brief an seinen Freund Walter Benjamin beilegte.

Und lobt:

Mit Wulf Kirstens Anthologie «Beständig ist das leicht Verletzliche», der man prophezeien kann, dass sie sich bald als der grosse Kirsten unentbehrlich machen wird, hat Egon Ammann am Ende seiner grossartigen Verlegerlaufbahn allen deutschsprachigen Lyrikfreunden ein generöses Abschiedsgeschenk gemacht, für das ihm Anerkennung und Dank gebührt.

«Beständig ist das leicht Verletzliche». Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan. Hrsg. von Wulf Kirsten. Ammann-Verlag, Zürich 2010. 1120 S., Fr. 129.–.

/ Peter Hamm, NZZ 19.6.

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