7. Gefundener Haiku

Im Fernsehkrimi, einem „Polizeiruf“ des DDR-Fernsehens von 1974, höre ich eben einen richtigen Haiku. Ein alter Mann sagt wörtlich (ich mußte nur das letzte Wort in den Plural setzen, damit die Silben stimmen):

Die Knospen brechen
auf, und schon liegt der Schnee auf
den Fensterbrettern.

Hier lesen Sie, daß der dichtende EU-Ratspräsident Herman van Rompuy nicht immer richtig zählt.

3 Comments on “7. Gefundener Haiku

  1. Diese gekürzte Version des Gedichts von Ezra Pound finde ich sehr interessant. Mir ging es ähnlich. Ich dachte immer, irgendwie könnte man ja vielleicht doch noch?!… streichen. Aber es ist ja schlieszlich Ezra Pound und der Text so oft zitiert, da hat man so etwas nicht zu denken. Die Version aus dem Penguin Book gefällt mir allerdings um einiges besser. Nun kannte ich allerdings schon die alte. Dann ist es schwierig sich vorzustellen, ob der Text auch ohne seinen Vorgänger Gültigkeit besitzt. Ich würde sagen, ja. Aber ob nun zu lang oder zu kurz, ich bin froh, dass sich die Imagisten und später die Beats auf die japanische Sprach- und Bildwelt bezogen haben. Über Referenzen in amerikanischer Lyrik bin ich dann auch bei den Japanern und Chinesen herauskommen und möchte diese Welt keinesfalls missen. So mischen sich verschiedene kulturelle und sprachliche Bezüge. Mit dem Polizeiruf-Haiku scheint es mir ähnlich zu sein. Da gibt es ja jenen (ebenfalls) viel zitierten Haiku-Moment, wo sich plötzlich ein winziges Stück „Welterkenntnis“ verdichtet und man muss es dann nur noch dokumentieren, so wie es einem zufällt. Dieses Begreifen, dass der alte Mann im Polizeiruf fast aus dem Stegreif einen Haiku sagt, fühlt sich (für mich aus der Ferne) ähnlich an. Etwas „durchdringt“ etwas anderes. Zwei Dinge, die im ersten Augenblick nichts gemein hatten, beziehen sich aufeinander und verweisen auf etwas Drittes, eine Ordnung vielleicht, ein Gefühl. Man ist plötzlich berührt. Ich bin kein Literaturwissenschaftler und überall lauern die Fettnäpfchen und Klischees, aber eben jene Polaritäten, die plötzlich einen ganzen (Assoziations)raum aufspannen, findet man ja zugleich auch in vielen Haiku.

    Ich hoffe, ich habe den Kriminalhaiku nicht überinterpretiert oder das Erlebnis niedergequatscht. Die Situation, die Sie schildern, schien mir nur gleichzeitig eine Illustration zu sein, wie sich mir (wenn ich Glück habe) Haiku erschlieszen.

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  2. Die Diskussion über die Silbenzahl bei Haiku ist eh schwierig zu führen. Das, was man in „westlichen“ Sprachen an Haiku produziert, ist fast schon unausweichlich zu lang, egal ob es nach „unserer“ Silbenzählweise 5-7-5 entspricht oder eben nicht. Kommt dazu, dass der gute Shiki erhebliche Verantwortung dafür trägt, was wir heute zumeist unter einem Haiku verstehen. Ein Basho, zum Beispiel, war u.a. mit Hokku beschäftigt, nicht mit Haiku, wobei ein Hokku eine weitaus vielfältigere Funktion innehaben konnte, zum Teil als Eröffnungsvers eines Kettengedichts oder auch als Bestandteil von Haibun,… Dieser ganze Kontext ist derartig komplex, dass ich, je mehr ich lese, immer weniger weisz. In diesem Sinne ist die stets wiederkehrende Silbenzahldiskussion ein bisschen ausgelutscht. Mir scheint, wir „Westler“ agieren oftmals als Pawlow’sche Haikuhunde, denen, wenn Sie Haiku hören, nichts Besseres einfällt als 5-7-5 zu bellen.
    Das nur so am Rande. (Nicht als Verteidigungsrede für Herrn Rompuy zu verstehen.)

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    • Danke für den Kommentar. In der Tat, hier könnte man selbst Herrn Rompuy verteidigen. Ich hatte den Wiener Artikel schon paar Tage liegen und zögerte, und erst als mir der TV-Krimi praktisch einen Haiku ins Ohr lieferte, hab ich ihn doch noch verwendet.
      Ich stimme Ihnen völlig zu, was die 17 Silben betrifft. Das ist zwar eine beliebte westliche Kunstübung geworden, 17silber zu schreiben, nichts dagegen zu sagen, aber in der Tat sind im Englischen und sogar im Deutschen meist zu viele Redundanzen drin. Vor allem bei Übersetzungen japanischer klassischer Haiku, die dann mit Füllwörtern aufgeschwellt werden.

      In der Einleitung des Penguin Book of Zen Poetry las ich, Ezra Pounds „In an station of the metro“, zu Recht bewundert und als das haikuähnlichste Gedicht der westlichen Literatur bezeichnet, enthalte gleichwohl zu viel Redundanz. Effektiver würde das Gedicht in verkürzter Form etwa so:

      Faces in the metro –
      petals
      on a wet black bough

      Der Rest sei in diesen Worten schon mitausgedrückt, zB „crowd“ in Metro. So würde es zu einem akzeptablen Haiku, vergleichbar (wenn auch vielleicht weniger wirkungsvoll) diesem von Onitsura (1661 – 1738):

      Autumn wind –
      across the fields,
      faces.

      Um den in der Übersetzung auf 17 Silben zu bringen, müßte man 8 unnütze Silben hinzudichten.

      Jener Krimi-Haiku ist insofern besser so:

      Die Knospen brechen auf
      und schon liegt Schnee auf
      dem Fenster.

      (Es rührt mich immer noch, daß in jenem Krimi ein alter Mann praktisch aus dem Stegreif ein Gedicht sprach; das mich sogleich anfiel. Kriminalhaiku.)

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