121. Sprachzauberin

Die Lyrikerin besteht auf der magischen Kraft ihrer Sprache; sie selbst wird zur „Sprachzauberin“ mit höchster dichterischer Autorität, reiht sich ein in die Gruppe von Künstlern, deren Kriterium für Kunst, wie sie behaupten, in ihnen selbst liegt: Ihr Werk ist, inspiriert von ihnen, immer Kunst. Das Schreiben ist für Mayröcker, wie sie in einem Gespräch mit der „Zeit“ erläutert, ein „total anderer Zustand, es ist fast, wie wenn ich eine Droge nehmen würde. […] Es ist ein magischer Zustand. Ich rede nicht gerne darüber. Ich empfinde es beinahe als Verrat, darüber zu sprechen. Es ist auch für mich ein Geheimnis.“

Die Schlusszeilen ihres Gedichts ähneln in ihrer herausfordernden Bestimmtheit einem frühen Tagebucheintrag Franz Kafkas vom 19. Februar 1911: „Die besondere Art meiner Inspiration […] ist die, daß ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Arbeit hin. Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe z. B. Er schaute aus dem Fenster so ist er schon vollkommen.“ So wie sich Kafka als „vollkommener“ Dichter sieht, sieht sich die Lyrikerin als eine Schöpferin von Sprachbildern, deren Wahrheit durch nichts als den dichterischen Text selbst konstituiert wird und darin vollständig zum Ausdruck kommt. Nicht die Frage, was sie „bedeuten“, ist die angemessene Haltung den Mayröcker’schen Versen gegenüber, sondern allein, was sie im Kontext des Gedichts „sind“ und welche Bilder und Vorstellungen sie evozieren. Von daher sind das ganz Private der Gedichte, das scheinbar Hermetische und Rätselhafte, die zahlreichen Namen zum Beispiel, die Kürzel, die kursiven Sätze, die Zitate, die unvermittelten Anfänge und scheinbar nicht zu Ende gebrachten Schlüsse, die Wortspiele und innertextlichen Verweise Teile eines lyrischen Schreibprozesses, die gewollt sind und auch nicht ohne weiteres bis in ihre Einzelheiten aufgelöst werden sollten. Das Un(aus)deutbare, das Geheimnisvoll-Besondere und die faszinierende Fremdheit der Verse sind ein Teil der lyrischen Welt Mayröckers. / Herbert Fuchs, literaturkritik.de

Friederike Mayröcker: dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif. Gedichte 2004-2008.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
343 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421062

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