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Die teils tatsächlich hocherotischen Gedichte führten 1881 sogar dazu, dass Whitman auf Veranlassung der „Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters“ vom Bostoner Staatsanwalt gezwungen wurde, mit seinen Druckplatten nach Philadelphia auszuweichen.
Aus heutiger Sicht viel erstaunlicher ist freilich die Radikalität, mit der das eigene Ich zum Thema der Dichtung gemacht wird, die programmatische Subjektivität der Grasblätter. Whitman stellt sich selbst ins Zentrum, seinen Körper, seinen Geist, oder besser vielleicht: Er erschafft die Figur „Walt Whitman“, die ihm als Ideal und als Kristallisationspunkt zur Seite steht. Dabei feiert er nie nur sich selber. Der Leser, das Du, ist als ebenbürtiger Kosmos stets mitgedacht, und auch er gewinnt durch das Poem an Größe: „Camerado“, ruft Whitman ihm zu, „ich reiche dir meine Hand!“In diesem Ich, das stellvertretend für alle anderen steht, entsteht die Welt mit all ihren Gegensätzen. Walt Whitman ist Lernender und Lehrender, Betrachter und Betroffener, er wird, ganz und gar proteisch, zu jedem und jeder, zu Mann und Frau, kann in einer Zeile in die Haut eines Freischärlers schlüpfen und in der nächsten als Witwe den ertrunkenen Gemahl beweinen. Er beschreibt sein geliebtes Manhattan, das gelegentlich unter seinem indianischen Namen Mannahatta auftaucht, und gleitet von dort durch die Bundesstaaten, über das Meer hin zu anderen Kontinenten – nur um kurz darauf die ganze Welt aus einer kosmischen Perspektive als „rundes Wunder“ durch den unermesslichen Raum rollen zu sehen. „Was weitet sich in dir, Walt Whitman?/Welche Wellen und welche dunstenden Böden?/Welche Klimate? welche Menschen und Städte sind hier?“
Dass sich ein solches Projekt auch in formaler Hinsicht neue Wege bahnen musste, versteht sich fast von selbst. Nicht nur verzichtet Whitman auf allen „romantischen Plunder“, wie er es nennt, er bricht auch mit den Konventionen von Rhythmus, Strophe und Reim, dem gesamten europäischen Erbe also, ja er geht noch einen Schritt weiter: In einem Essay spricht er sich dafür aus, die herkömmlichen Grenzen zwischen Prosa und Lyrik niederzureißen – und setzt dies als Erster konsequent in die Praxis um. Die „Grasblätter“ sind in Langzeilen verfasst, in einem freirhythmischen vers libre, der nicht auf Binnenreime und erst recht nicht auf Musikalität verzichtet, sich aber gleichzeitig der gesprochenen Alltagssprache annähert.
William Carlos Williams, Dichter und Kinderarzt, sollte Jahrzehnte später sagen können, er habe seine Sprache „aus dem Munde polnischer Mütter“ – auch dies hat seinen Ursprung in den „Grasblättern“. Zu Whitmans Gedicht „Trugbilder“ etwa findet sich die kurze Notiz: „Verbatim notiert nach einem Gespräch beim Abendessen draußen mit zwei alten Bergleuten in Nevada“.
Man fragt sich, was der größere Schock gewesen sein mag für das damalige Publikum: die unverschämte, das heißt: ohne alle Scham vorgebrachte Subjektivität oder die Wahl der poetischen Mittel, die auch aus dem reichen Fundus des Dialekts schöpften und vulgäre Ausdrücke nicht scheuten. Das vielleicht charakteristischste Stilmittel Whitmans sind allerdings die langen Aufzählungen, mit deren Hilfe er die Fülle an Material strukturiert und die Dinge egalitär nebeneinanderstellt, meist verbunden mit der Wiederholung des Zeilenanfangs, etwa eines „Ich höre“, gefolgt von den Gesängen sämtlicher Berufsgruppen der Vereinigten Staaten, vom Mechaniker über den Zimmermann, Maurer, Bootsmann, die besonders geliebten Matrosen, oft über Seiten hinweg. / Jan Wagner, FR 4.1.
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