88. Chinesische Klassik

Zu den Höhepunkten der alten chinesischen Schriftkultur zählt vor allem die Lyrik, die erst in der Moderne nach dem Untergang des Kaiserreichs (1911) ihren hohen Rang an die Erzählkunst abtreten musste und in jüngster Zeit ein Randdasein führt. Sie wurde jedoch seit dem Mittelalter (220 bis 907) von einer Essayistik begleitet, die aufgrund ihres poetischen und philosophischen Charakters durchaus einen Vergleich aushalten konnte. Die Essays kommen allerdings in der etwas unglücklich mit Von Kaiser zu Kaiser betitelten Anthologie der klassischen Lyrik und Kunstprosa etwas zu kurz.

Die Herausgeber haben sich hier auf die klassische Periode beschränkt: von der Han-Zeit bis zur Song-Zeit (insgesamt 206 vor Christus bis 1279 nach Christus). Das Buch der Lieder (circa 700 vor Christus) wurde der Sammlung Das alte China. Die Anfänge der chinesischen Literatur und Philosophie zugeschlagen, und Die Lieder des Südens, schamanistische Gesänge (circa 300 vor Christus), wiewohl im Vorwort erwähnt, fehlen ganz. Warum endet aber diese Anthologie schon mit Jiang Kui (1155 bis 1221)? Hat es nach diesem Sänger keine große Lyrik und Kunstprosa in China mehr gegeben?

Es ist eine Tatsache, dass sich bedeutende Übersetzer wie Günther Debon, der wohl weltweit am besten chinesische Lyrik übertragen hat, auf die klassische Periode im engeren Sinne, vor allem auf die Maßstäbe setzende Tang-Dynastie (618 bis 907), beschränkt haben. Und es ist auch eine Tatsache, dass die Essayistik in der ausgehenden Kaiserzeit die Dichtkunst an sprachlicher Schönheit wie gedanklicher Tiefe zu übertreffen beginnt. Dichtern wie Li Bai (701 bis 762) oder Du Fu (712 bis 770), die auch die deutsche Literatur sehr stark beeinflusst haben, war bereits hundert Jahre nach ihrem Tod lyrisch nicht mehr sehr nahezukommen. / Wolfgang Kubin, Die Zeit 42

Eine Sammlung chinesischer Klassiker. Herausgegeben von Eva Schestag und Daniel Ibáñez Gómez:

Das alte China. Die Anfänge der chinesischen Literatur  und Philosophie; hrsg. von Eva Schestag; 360 S., 25,– €

Von Kaiser zu Kaiser. Die klassische chinesische Lyrik  und Kunstprosa; hrsg. von Eva Schestag und Olga Barrio Jiménez; 360 S., 25,– €

Die goldene Truhe. Chinesische Novellen; hrsg. und  übersetzt von Wolfgang Bauer und Herbert Franke; 448 S., 25,– €

Der Aufstand der Zauberer. Ein Roman aus der Ming-Zeit;  hrsg. und aus dem Chinesischen von Manfred Porkert; 672 S., 28,– €

Drei-Zeichen-Klassiker. Ein Lehrgedicht für Schüler;  übersetzt und eingeleitet von Eva Schestag; mit Kommentaren von  Daniel Ibáñez Gómez und Kalligrafien von Wang Ning (Beigabe zum Schuber)  Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009; Schuber, zus. 1840 S., 89,– €

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