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Nora Gomringer zählt zu den jungen wilden Poeten, die nicht nur grossartige Gedichte schreiben, sondern diese auch virtuos vortragen. Am nächsten Dienstag tritt sie in der Reihe «Nachtlesung in der Bärengasse» in Zürich auf.
Die jungen Helden der sogenannten «spoken word poetry» brauchen Ohrenzeugen. Die stärksten Waffen dieser Dichter sind die Mündlichkeit, der konkrete Sprechakt, die starke Performance – und die Tuchfühlung mit einem Publikum, das sich von den verbalen Suggestionen mitreissen lässt. Die Wucht des Oratorischen, des Psalmodierens, das Drama der Sprachverzückung – all dies zelebriert die im saarländischen Neunkirchen geborene Nora Gomringer in unwiderstehlicher Dynamik. …
Ihre Ankündigung, etwas «Unerhörtes» und «Aussergewöhnliches» mit der «durch und durch bekannten» Sprache «zu machen», erfüllt sie mit Leben durch den Wechsel zwischen unterschiedlichsten Sprechhaltungen und durch die Realisierung verblüffender Formexperimente. In «Klimaforschung», ihrem jüngsten Gedichtband, hat sie sich von den Performance-Bemühungen der Slam-Poetry schon sehr weit entfernt. Es geht nicht mehr um die unmittelbar sinnliche Demonstration lautpoetischer Obsessionen oder um pointensüchtige Klang- und Reimspiele, sondern um die Mobilisierung aller Sprachdimensionen, die ein Gedicht freisetzen kann.
Ihr Gedicht «Ich werde etwas mit der Sprache machen» illustriert denn auch nicht den naiven Veränderungswillen einer Dichterin, sondern zeigt die Selbstwidersprüche und Sackgassen, in die ein literaturrevolutionär gesinntes Sprechen geraten kann. Das «Aussergewöhnliche» und «Erstaunliche» in der Sprache kann eben nicht einfach dekretiert werden. So erhellt dieses Gedicht die Gefahr eines Rückfalls in die alte «Knechtschaft der Zeichen» (Roland Barthes), indem es am Ende vom grossen Scheitern des Bedürfnisses nach dem «Aussergewöhnlichen» spricht. In einem Widmungsgedicht für Friederike Mayröcker reflektiert Nora Gomringer ein weiteres Mal die Ambivalenzen und Untiefen der poetischen Sprachfindung. / Michael Braun, NZZ 29.8.
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