130. Aus der Lesbarkeit befreit

bei sachgemäßer lagerung
halten unsre tage acht, vielleicht

zehn stunden, bevor sie
zu goldstaub zerfallen; es ist dann

ungefähr sechs, ein altes
augenleiden hindert uns

an der weiteren lektüre von
papas randnotizen zu mamas brief;

(„lassen wir den kram erstmal liegen“).
nach einbruch der dunkelheit,

flimmern und klammern, – singen die
antennenfische wieder ihr lied, es handelt

vom fließtext der leiber, der uns
aus der lesbarkeit befreit

Selbstannoncierung auf Bitte des L&Poe-Herausgebers. – Das Gedicht gehört zu einem Zyklus von 46 Texten, die das Zentrum meines ersten Gedichtbandes bilden. In diesem Text ist viel von dem enthalten, worum die meisten Gedichte dieses Bandes kreisen: Die Erprobung von Möglichkeiten zu einer weiteren Denaturierung der Restnatur, die in meinen Texten nicht als Ergebnis von Beschreibung oder Beobachtung figuriert, sondern als Konstruktion auf- und ausgestellt wird. Ornamental und broschiert. Die Psycho-Histoire, die im vorliegenden Gedicht auf der Ödipusfolie die Frage nach der Lesbarkeit der eigenen Geschichte in der Spannung zu (und zwischen) den Vorfahren beiderlei Geschlechts stellt. Was lesen wir bei Papa und Mama? – Diagnose Verfinsterung. Erhellt lediglich von der vielleicht heillosen, aber irgendwann doch in Aussicht gestellten Erlösung von allen diesen komplexen Lektüren. Seelentext und Eschatologie. Vielleicht wirklich einfach die Hände sinken lassen, und Ruh’? – Schließlich das in fast allen Gedichten wiederkehrende Thema der Textualität selbst. Sollte es uns gelingen, unsre restinnerliche Bewegtheit in eine reflexionsfreie körperliche Textur münden zu lassen, könnten wir uns vielleicht (selbst) in die Freiheit entlassen. Ja, das klammernde Selbst. Irgendwo zwischen Derrida und Münchhausen ist das hier angesiedelt; nicht ganz utopiefrei, und doch jegliche Realisierung gänzlich dahingestellt. Allein der Fernseher lebt uns vor, wie das geht. Sex-Test-TV. – Und also das alles hineingestellt in ein ironisches Lachen, das sich danach sehnt, ein irenisches zu werden.

/ André Rudolph

Andre Rudolph: Fluglärm über den Palästen unsrer Restinnerlichkeit. Gedichte. Mit Illustrationen von Annette Kühn. Christian Lux, Wiesbanden 2009. 104 S., 18,50 Euro. (www.luxbooks.de)

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