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Dass er in Chlebnikov schnell einen Anverwandten fand, einen, der wie er selbst als Alchemist im Sprachlabor rumort, ein Mitglied der Familie der Wörtlichnehmer, der dichterische Fleißaufgaben dadurch löst, dass Ableitungs-, Kombinations- und Flexionsgelegenheiten der Sprache gierig ergriffen werden, ist begreiflich. Besonders die Abstraktionsmöglichkeiten in Chlebnikovs Lyrik begeisterten Pastior: „Was da alles innerhalb des Russischen passiert; und was das Deutsche, wenn auch anders, aber analog dazu, an Wort- und Syntagmen-Neubildungsmodalitäten bereithalten könnte, sollte, müsste.“ Wahrig, Kluge, Dornseiff und andere Wörterbücher halfen ihm, deutsche Stammsilbenfamilien auf ihre Chlebnikov-Verträglichkeit hin zu untersuchen.
In seiner „Allerleilach“ („Kopfankopf-Koppel“) spielt Pastior in dieser Weise: „Zum Lachen, dass ich nicht lache. Mich lachzig lache, mich lächerig lache, in Auflachungen die Lacher lächerlich lache, mich vor Lachen erlache, vor Lächerlichkeit mich lachend belache, nach Lache lechze vor Gelächter, lachhaft, lachhaft, lachhaftiglich lachhaft, hach.“ Gleichermaßen im „Liebsatz“: „In liebeloher Zulieblichung, liebst Liebstling liebstersten Maßlubst, wie lieb lieb Lub tut.“
Mit dem neuen, bibliophil gestalteten Gedichtband im Verlag Urs Engeler Editor wird Pastiors Chlebnikov endlich wiederentdeckt. 28 Varianten belegen die Wortmagie zweier ähnlicher Dichter. Der eine, Chlebnikov (1885-1922), zählt zum Umfeld der russischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts. Der andere, Pastior, 1927 geboren, gehört heute zu den bedeutendsten Lyrikern der Gegenwart. Velimir Chlebnikov suchte als Mathematiker eine Weltformel, mit der zukünftige Ereignisse berechenbar werden, und kreierte als Graphomane eine „Weltsprache“ mit universell lautlicher Gültigkeit, die Oskar Pastior verstanden hat und poetisch beherzigt. „Denn um Chlebnikov in eine andere Sprache überzusetzen“, das erklärt ein kluger Beitext von Felix Philipp Ingold am Ende der neuen Ausgabe, „genügt es nicht und ist es auch nicht möglich, Chlebnikov korrekt zu ,übersetzen‘; Chlebnikov zu übersetzen heißt nach Chlebnikov zu dichten, heißt wie Chlebnikov zu dichten, heißt Chlebnikov fortzuschreiben in der Zielsprache – hier also im Medium des Deutschen.“ / Oliver Ruf, taz 14.2.04
Oskar Pastior: „Mein Chlebnikov“. Russisch/ deutsch, Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein/Wien 2003, Hardcover, Compact-Buch, 15 x 20 cm, 64 Seiten mit Audio-CD, 24 Euro
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