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Vor zwanzig Jahren, als Friederike Mayröcker noch gar nicht so alt war, schrieb sie in der halluzinatorischen Prosa des Bandes «Reise durch die Nacht» von ihrer Vermutung oder Hoffnung, «dass die Assoziationskraft mit zunehmendem Alter eher zu- als abnimmt». Jetzt, mit bald 80 Jahren, hat sie das wieder einmal bestätigt. Denn eines der Wunder von Mayröckers Poesie liegt in der Kunst der Assoziation, durch die sie der Sprache Verblüffendes entlockt, was den Leser zwar verstören, aber ihm seinerseits auf assoziative Sprünge helfen kann. Ein weiteres Mirakel ist ihr beharrlich weltabgewandtes Wandeln in einem privaten Zettelhain, jetzt genauso wie schon in den Jahrzehnten der allgemeinen ideologischen Schaustellerei. Doch bei aller Freiheit von Ideologie ist in ihren Gedichten erstaunlich viel von der Wirklichkeit die Rede, vom häuslichen Alltag in ihrem «Elendsquartier», vom Hier und Jetzt der körperlichen Hinfälligkeit, freilich nie vom letzten Schrei der Weltgeschichte. …
Als Jandl im Sterben liegt, Anfang Juni 2000, schreibt Mayröcker: «ach ich KLEBE an diesem / Leben an diesem LEBENDGEDICHT». Dann folgt die besagte Lücke von vier Monaten. Danach geistert «ER» noch deutlicher als früher durch ihre Verse, entstehen noch mehr Gedichte in seinem Angedenken, wie diese private Erinnerung an ein Weltereignis:
Sonnenfinsternis ’99 / Bad Ischl
für Ernst Jandl
erst wieder in 700 Jahren sagt ER 1 Jahrhundert Ereignis sagt ER solltest du nicht versäumen sagt ER auf dem Balkon ER setzt die Spezialbrille auf verkrieche mich mit dem Hündchen in der Schreibtischnische die Vögel verstummen – 1 Jahr danach SEINE ewige Finsternis
/ Franz Haas, NZZ 26.6.03
Friederike Mayröcker: Mein Arbeitstirol. Gedichte 1996-2001. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 2003. 215 S., Fr. 34.60.
Friederike Mayröcker: Die kommunizierenden Gefässe. Edition Suhrkamp 2444, Frankfurt am Main 2003. 90 S., Fr. 12.50.
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