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Veröffentlicht am 28. März 2002 von rekalisch
In der FAZ schreibt Rainer Bayreuther über das pietistische Passionslied:
Der Pietist glaubt das Leiden Jesu nicht nur, er sucht es auf, er begibt sich in möglichst heiße und psychisch stimulierende Nähe zu ihm. Hier eröffnen sich neue, unbegrenzte Möglichkeiten für die Bildersprache. Die Passionsmetaphorik hat sich den Persilschein der Selbstbezüglichkeit ausgestellt. Ihre Triftigkeit wird allein von der Phantasie des frommen Virtuosen selbst eingelöst. Ein im Pietismus vielgesungenes Passionslied eines anonymen Verfassers spiegelt den frischen Zufluß poetischer Sprache wider: „Du Balsamsitz, du Rosentür, / du reicher Mund, durch den sich mir / mein Heilstrom ausgegossen; / ach wasch doch ab und schweif geschwind / von meiner Brust weg alle Sünd.“ Die Rosentür – das ist die Seitenwunde, die Jesus durch den Speerstich eines römischen Soldaten zugefügt worden war. Durch sie konnte man nun aus- und eingehen, sich in ihr einrichten. Der intendierte Psychoschmerz (man wollte ja leiden) wurde zum wohligen Schauer. Nikolaus Graf Zinzendorf, der in den 1730er Jahren im hessischen Herrnhag eine Schar Erweckter um sich sammelte, trieb den Seitenhöhlen-Kult auf die Spitze: Das blutrot gestrichene Portal zum Versammlungssaal hatte die Form einer überdimensionierten Seitenhöhle. Die Ähnlichkeit mit einer Vagina war sicher reiner Zufall. / FAZ 28.3.02
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: Nikolaus Graf Zinzendorf, Rainer Bayreuther
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