Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
„Matthias“ BAADER Holst. Untergrundpoet, Punk, Anarchist, Vagant, Dadaist, radikaler Künstler, Rebell. Das alles irgendwie. Und das alles irgendwie nicht.
Ein sicherlich singulärer Vorfall, der eine Symbiose mit seinen Texten eingegangen war und sie als Klangform der eigenen Unangepasstheit unters Volk schlug. Ein performender Dichter mit asketischem Körper, ungezügeltem Intellekt und dem Machtapparat einer Sprache, die nicht leicht mit ihm zu teilen war. Den Kopf kahl rasiert wie einer, der das Äußere ganz von sich abschneiden will. Ein Nosferatu-Typ, auratisch, mit einer hohl klingenden, dunklen Orakelstimme. Eine wie der Dadaist Johannes Baader „charismatische Begnadung“. / scheinschlag , 24.3.01
neben der Vitrine mit seinem Taufhäubchen wird die Novalis-Stiftung zur Taufe gebracht werden. Für Gabriele Rommel ist dies ein weiterer Schritt in ihrer zehnjährigen Bestellung von Novalis’schem Neuland. 1992 hat die habilitierte Germanistin blutenden Herzens die Universität Leipzig verlassen und ist nach Wiederstedt gezogen. Hier fand sie das Schloss als eine Baustelle, die sie in Gummistiefeln betrat. Ihr erster Arbeitstisch stand beim Bestattungsunternehmer Wahrlich neben der Kammer, in der sich die Leichenwäscher umzogen. Novalis, sagt die blonde, entschiedene Frau, sei heute im Mansfelderland die letzte Möglichkeit, Identifikation zu schaffen. / NZZ 23.3.01
Die Tusculum-Ausgabe der Liebeskunst von Ovid als Taschenbuch / Burkhard MüllerBerliner Zeitung 24.3.01
Neue Bücher über Arthur Rimbaud bespricht The New Republic
with runes and riddles and an illiterate herdsman told by an angel to make his own song in praise of God. This first named English poet, Caedmon, had the virtue of reluctance. Commanded by his angel to sing, he replied that he did not know how. „Yet you could,” said the angel. So Caedmon sang — nine heart-felt lines, strongly stressed, simple in thought and feeling, a variation on the Lord’s Prayer beginning „Nu scolon herigean heofonrices Weard” (Now praise we country heaven’s Warder). The Old English is strange to us, but said aloud slowly it still has the power to make the hairs prickle in the nape of the neck. As Michael Schmidt remarks, repeating the tale as told by Bede, Caedmon was thus not only the first English poet, but the first inspired poet in English. Schmidt’s The Story of Poetry is going to be a four-volume history of English verse. / The Times Onlinespecial 14.3.01
In der New York Review of Books schreibt Charles Simic über James Merrill („Miraculous Mandarin“) und JAMES FENTON über Philip Larkin: It is often casually said of Larkin’s poetry that it expresses common experience, that it has its origin in the commonplace, or even—I have seen this in newspapers—that the famous catchphrases that have been drawn from it („What will survive of us is love,” „Books are a load of crap,” „Life is first boredom, then fear,” „They fuck you up, your mum and dad”) express a common point of view. But what strikes us most about Larkin is not the commonness but the singularity of the point of view. /
Den Darmstädter Leonce und Lena-Wettbewerb für Nachwuchslyriker haben am Samstag Sabine Scho aus Hamburg und die Frankfurterin Silke Scheuermann gewonnen. Sie teilen sich das Preisgeld von 15 000 Mark. Der Leonce und Lena-Preis sei entgegen der Tradition geteilt worden, weil kein Autor herausgeragt habe, sagte Jury-Moderator Wilfried Schoeller. Jedes der vorgetragenen Werke habe Schwächen aufgewiesen. Einige Juroren hätten sogar erwogen, gar keinen Preis zu verleihen. Die ausgezeichneten Lyriker hätten jedoch gute Anlagen und könnten ihren Weg gehen. (dpa) Berliner Zeitung 26.3.01 Silke Scheuermann erhält ihn, so die Begründung der Jury, „in Anerkennung der Eigenständigkeit ihres Tonfalls, einer Melodik ironischer Melancholie, die genau gefügt ist und dennoch die Dinge fast wie beiläufig zu umfassen weiß“.
Und die Leonce-und-Lena-Preisträgerin Sabine Scho wird geehrt „für ein vielstimmiges, vielperspektivisches, hochkomplexes lyrisches Sprechen, das zeigt, was Lyrik zuallererst ist: ein schönes Spracherweiterungsprogramm. Auf bravouuröse Weise löst die Autorin die große alte Aufgabe der Dichtung, ein äußerst zufälliges in ein einzigartiges Leben zu verwandeln“.
Der Preis trifft zwei Dichterinnen, die während des Wettbewerbs auch durch die Art ihres Vortrags aufgefallen waren. Silke Scheuermann gab der Melodik ihrer Gedichte, die vom Wortklang ebenso getragen wird wie vom Rhythmus, durch ein tastendes Singen und hauchige Töne einen einzigartigen Reiz. Und Sabine Scho erinnerte in den eigenwilligen rhythmischen Setzungen, mit denen sie ihre rätselvollen Gedichte gliederte, an die raffinierte Vortragskunst Thomas Klings, der mit Sabine Scho einen Gedichtband herausgeben wird.
Die Wolfgang-Weyrauch-Förderpreise (je 5000 Mark) gehen an Hendrik Rost für „sachlich-zerebrale Lyrik“ und ein „poetisches Parlando“, das sich „lakonisch und ironisch“ gibt. An Mirko Bonné wird „die inhaltliche und sprachliche Engführung von Alltag und Pathos“ gelobt, Maik Lippert für den „plebejischen Mutterwitz eines hemdsärmeligen Barden“. Es wird nicht wenige Zuhörer geben, die an seiner Stelle lieber Anja Utler für ihre sehr präzisen, streng durchkomponierten lyrischen Miniaturen ausgezeichnet hätten. / Darmstädter Echo 26.3.01
Frankfurter Anthologie der FAZ am 24.3.: Ludwig Harig über Novalis; Alle Menschen seh ich leben – Auf der gleichen Seite schreibt Lothar Müller zum 200. Todestag (Novalis als romantischer Enzyklopädist) Außerdem eine Besprechung des Astralis-Buches von Sophie Vietor (über einen sensationellen Handschriftenfund aus dem Nachlaß von Stefan Zweig) – In der NZZ schreibt Karl Heinz Bohrer und in der Süddeutschen Harro Zimmermann über den Dichter.
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Die Aufmerksamkeit richtet sich damit auf eine schützenswerte, weil aussterbende Gattung. Statt die Poesie jedoch als «Essenz der Kultur» heilig zu sprechen, bringen verschiedene Projekte sie im täglichen Leben wieder zur Geltung.
Zum UNESCO Welttag der Poesie muss man sich wohl auf das Verschwinden dieser Literaturgattung gefasst machen. Der nächste Schritt wird sein, sie zum Weltkulturerbe zu ernennen: Ankor Wat, Quedlinburg, Gizeh, Poesie. Man erinnert sich an Erzählungen der Großeltern, die etwas von Birnen im Havelland murmelten, und staunt über staatlich geschützte und alimentierte Dichter, die in mutigen Städten als Stadtschreiber hausen. Nicht füttern, warnt ein Hinweisschild – wenn doch, dann höchstens mit ein wenig Käse und Rotwein. / Netzeitung 21.3.01
Über die Exilgedichte des chinesischen Lyrikers Bei Dao schreibt die Süddeutsche am 21.3.
stellt ihre Autoren Angelika Janz und Richard Anders während der Leipziger Frühjahrsmesse im Gohliser Schlößchen vor. Angelika Janz liest aus dem in Vorbereitung befindlichen Lyrikband „Unter Strom im Frühlicht“. Richard Anders liest Gedichte und poetologische Texte unter dem nicht zufällig an André Breton erinnernden Titel „Wolkenlesen“.
Donnerstag, 22.3., 20.00 Uhr Gohliser Schlößchen, Leipzig
Angelika Janz, geboren 1952 in Düsseldorf, lebt jetzt in Aschersleben (Vorpommern). Sie ist Autorin (Lyrik und Prosa) und bildende Künstlerin mit zahlreichen Ausstellungen. Ein bevorzugter Aufenthaltsort liegt für sie zwischen den Stühlen: sei es im Grenzbereich der Künste (visuelle Poesie, Bild-Text-Arbeiten, Fragmenttexte, Performance, Hörspiel) , sei es im Spannungsfeld zwischen ihrer West- (Rheinland) und Ost-Heimat (Vorpommern). Sie arbeitet im Landkreis Ucker-Randow seit Jahren an sozialen und kulturpolitischen Aufgaben und verarbeitet ihre west-östlichen Wahrnehmungen in Gedichten und Prosa (Barackenleben, Die Implodierten).
Richard Anders, geboren 1928 in Ortelsburg (Ostpreußen), lebt in Berlin. Prägend für sein literarisches Schaffen wurden – nach erster Bekanntschaft mit surrealistischer Literatur und Kunst in den 40er Jahren – Begegnungen mit Hans Henny Jahnn (50er Jahre) und André Bretons Surrealistenkreis (60er Jahre). 1998 erhielt er als erster Preisträger den Greifswalder Wolfgang-Koeppen-Preis. Er schreibt Gedichte, Prosa (autobiographischer Roman, Kurzprosa), Essays für Zeitschriften und Rundfunk und übersetzt aus dem Englischen und Französischen. In der Edition des Wiecker Boten erscheint: Wolkenlesen. Essays und Rezensionen über Surrealismus und hypnagoge Bilder.
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wehen von irgendwo her. Und einen Schlusspunkt setzen sie selten.
Wie so oft in der Sparte Lyrik, gilt es ein Bändchen anzuzeigen, dessen äussere Eigenschaft das Adjektiv schmal bezeichnet. Im vorliegenden Fall handelt es sich nicht nur um ein schmales, sondern zugleich auch um ein schönes Buch: Das Atelier Bodoni in Frauenfeld hat Ingrid Fichtners „Das Wahnsinnige am Binden der Schuhe“ im Handpressendruck produziert. Die individuelle Gestaltung gibt auch den unscheinbaren unter den Gedichten einen Rahmen, in dem sie sich entfalten können. Denn Platz braucht diese Lyrik – bedingt durch ihr hervorstechendstes Merkmal, offene Ränder zu haben. / Philipp Gut , Tages Anzeiger 21.3.01
Spricht man von sorbischer Literatur, so fällt der Name Kito Lorenc. Er ist ihr Hirn und, was er ungern zeigt, ihr Herz. «Man kann die Heimat gar nicht zu viel lieben» heisst ein Poem voller mokanter Reimereien. Es steht im schattig blauen handgehefteten Auswahlband «An einem schönbemalten Sonntag. Gedichte zu Gedichten» und zählt auf, was es an dieser Heimat so alles zu lieben gibt, «den Lurch in der Furch», den «Laich in ihrem Teich», «den sauren Regen . . . ohne zu überlegen», daneben «beim Heimspiel ins Reimziel» sogar «ihre Fussballelfen . . . um fünf vor zwölfen»
Kito Lorenc: An einem schönbemalten Sonntag. Gedichte zu Gedichten. Mit einem Nachwort von Christian Prunitsch und Original-Holzschnitten von Christian Thanhäuser. Edition Thanhäuser, A-4100 Ottensheim 2000. 54 S., Fr. 90.-.
/ Beatrice von Matt NZZ 20.3.01
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Ulrike Draesners reicher Gedichtband „für die nacht geheuerte zellen“ Die Poetisierung des Banalen, besser: die Befreiung des Poetischen aus dem Banalen gelingt Draesner mit Leichtigkeit und Genauigkeit, eben mit „exakter Fantasie“. Die epilierten Haare verwandeln sich zu Hieroglyphen der Natur; man erinnert sich an Büchners Woyzeck, der die Pilzringe auf dem Feld zu verstehen versucht: „Wer das lesen könnte.“
Am erstaunlichsten an diesem Gedichtband ist wohl die Variierungsfähigkeit Draesners. Die düstere Tom-Waits-Großstadt-Ballade findet sich wie das nachdenkliche Landschaftsgedicht, Lyrik über die Eltern wie ein „fußballgedicht“, Neun-Zeiler wie Vier-Seiter, Witz wie Wut, Durchgeistigtes neben Leiblichkeit. / FR 21.3.01 Rolf-Bernhard Essig
Vorsicht, bissige Stille, was knarrt
sind nur ein paar verzogene Jahresringe,
die Königssuite einer Bruchbude ist hier,
und jeder Tag hat vierundzwanzig Überstunden.
Türschild ist ein im Dezember 2000 entstandenes, bislang unveröffentlichtes Gedicht des 1960 geborenen Walle Sayer, der so überhaupt nicht in die Schablonen bundesrepublikanischer Wirklichkeiten passt. Wohl deswegen sind ihm bereits eine ganze Reihe literarischer Preise verliehen worden, denn die saturierten Niemandslandwohlstandsbildungspolitiker mögen es, wenn statt ihrer der eine oder andere ein wenig aus der Reihe tanzt: alter ego? Wer weiß… / Theo Breuer, Titel , Magazin für Literatur, Film und Crossover
Karel Hynek Mácha, der Heine der Tschechen, mit einer Auswahl aus Prosa, Poesie und Tagebüchern
Mácha, in Prag geboren, wuchs in kleinen Verhältnissen auf. 1829 veröffentlichte er – noch auf Deutsch – seinen ersten Gedichtband, beeinflusst von der Lektüre Goethes, Schillers, aber auch der fantastischen Romantiker. Im darauf folgenden Jahr erheben sich die Polen gegen die russische Vorherschaft. Nach Niederschlagung ihres Aufstandes unterstützt Mácha in Prag flüchtige Freiheitskämpfer. Er lässt sich von ihnen und den Werken der polnischen Romantiker politisch wie ästhetisch inspirieren. Mácha begreift sich als national gesinnter Schriftsteller. Die Pflege der Volkssprache wird ihm zur vorrangigen Aufgabe. Er vertieft und erweitert sie, spielt vor allem in der Lyrik mit ihren Doppeldeutigkeiten – und ist so ein Vorläufer der literarischen Moderne. Den Heine der Tschechen nennt ihn Klabund. / Süddeutsche Zeitung 20.3.01
Am 17. März ist in St. Petersburg der Dichter und Essayist Viktor Kriwulin im Alter von 56 Jahren gestorben. Die Stadt an der Newa war für Kriwulin mehr als nur Wohnort – er trat während der siebziger und achtziger Jahre als eine der wichtigsten Figuren im literarischen Untergrund von Leningrad auf; in den neunziger Jahren engagierte sich Kriwulin in der Petersburger Demokratiebewegung, der auch die 1998 ermordete Abgeordnete Galina Starowojtowa angehörte. Es mutet wie eine körperliche Metapher der stabilitas loci an, dass Kriwulin seit seiner frühen Kindheit an einer Knochenkrankheit litt und deshalb an Krücken gehen musste – als ob das Schicksal sicherstellen wollte, dass der Dichter seine Stadt nicht verlassen konnte. / NZZ 20.3.01
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