Viele Dinge hindern uns Menschen

Sarah Kirsch

(* 16. April 1935 in Limlingerode, Kreis Nordhausen; † 5. Mai 2013 in Heide (Holstein))

Bei den weißen Stiefmütterchen

Bei den weißen Stiefmütterchen
Im Park wie ers mir auftrug
Stehe ich unter der Weide
Ungekämmte Alte blattlos
Siehst du sagt sie er kommt nicht

Ach sage ich er hat sich den Fuß gebrochen
Eine Gräte verschluckt, eine Straße
Wurde plötzlich verlegt oder
Er kann seiner Frau nicht entkommen
Viele Dinge hindern uns Menschen

Die Weide wiegt sich und knarrt
Kann auch sein er ist schon tot
Sah blaß aus als er dich untern Mantel küßte
Kann sein Weide kann sein
So wollen wir hoffen er liebt mich nicht mehr

Aus: Frauen | Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache. Im Auftrag der Wüstenrot Stiftung herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Anna Bers. Stuttgart: Reclam, 2020, S. 548f

Der Blick ändert sich. Die Zeit bleibt stehen.

Raja Lubinetzki 

Was erhoffst du zu finden? Eine Arbeit, 
die in der Trauer noch grinst, eine fetzige Bockwurst
oder eine Schießbude auf dem Jahrmarkt,
ein neues Kaufhaus, eine verräucherte Pommefritzbude
oder ein Dichterlokal, einen Sack voll Nüsse
oder ein Glas Doppelkorn, eine Steghose,
einen Schlittschuh oder eine Schneeflocke,
die nicht mehr tanzt, ein Zentimetermaß, einen Sohn,
einen Neffen oder einen Opa, die verlorene Zeit,
einen Trunkenbold oder eine Serviette,
einen Fahrplan oder die verlorene Liebe,
einen Weckrufalarmwecker oder den neuesten Stand
eines Graffittis, eine Brigitte, einen Schnellhefter
oder eine elektrische Schreibmaschine, ein Luftbläschen
oder eine Emotion, einen Lehrer oder eine Schule,
eine Ausstellung oder eine den Kaffeesatz auf dem Tisch
verschmierende pinselnde Biene.
Wie ein Tourist denkst du, die weißen Fahnen
flattern schon wie Segel, ein Mova oder eine abgewetzte
Jeans für hundert Mark, einen Marabu oder ein Duschgel,
einen Stammplatz oder eine Wiese, die in der Nähe
noch leuchtet vom glitzernden Tautropfen in der Morgenstille
bewacht, einen Löwen oder einen Held, eine
Seidenraupe oder einen ....
Der Blick ändert sich. Die Zeit bleibt stehen.
Der Juli war am Gehen, der August ist vorbei.

Aus: Frauen | Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache. Im Auftrag der Wüstenrot Stiftung herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Anna Bers. Ditzingen: Reclam, 2020, S. 652

Raja Lubinetzki (geb. 1962) absolvierte eine Lehre zur Schriftsetzerin, erlernte die Bildhauerei und war Mitglied der Ostberliner Kunstszene in Prenzlauer Berg. Nachdem sie dort zunehmenden Repressionen ausgesetzt war und kurzzeitig inhaftiert wurde, konnte sie 1987 aus der DDR ausreisen. Auch heute lebt Lubinetzki in Berlin, wo sie bildkünstlerisch und lyrisch tätig ist.

Ebd. S. 738

„Macht man das bei euch so?”

Jonë Zhitia

(* 1996 in München)

„Ist es hier oder dort schöner?”
„Macht man das bei euch so?”
„Macht man das dort so?”
„Du bist zu laut”
„In Deutschland macht man das nicht so.”
„Bei euch ist das vielleicht normal, hier nicht.”
„Das ist schon typisch K—-.”
„Ich weiß auch nicht, aber ich weiß nicht, ob ich das gut fände,
wenn man da die Kulturen vermischt.”
„Ist das schlimm für deinen Vater? Dass du zur Uni gehen
willst?”
„Das wäre mir schon zu anstrengend.”

„Ihr versteht das nicht, ihr seid dort aufgewachsen.”
„Ich glaube, dir fehlt da der Bezug, weil du nicht von hier bist."”

Wieso reduzierst du dich so darauf?

Aus: Jonë Zhitia: Nadryw | Sprache fühlen. Berlin: SUKULTUR, Juni 2023 (Schöner Lesen 207), S. 14

JONË ZHITIA ist 1996 in München geboren. Sie studiert Soziologie an der Universität Leipzig und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut. 2020 war sie Mitbegründerin des nachhaltigen und feministischen Onlinemagazins EKOLOGISKA MAG und veröffentlichte unter anderem in den Literaturzeitschriften tuerspion und JENNY. 2022 gewann sie mit „Nadryw | Sprache fühlen“ den Wortmeldungen Förderpreis der Ulrike Crespo Foundation. Neben ihrer literarischen und journalistischen Arbeit ist sie auch als Moderatorin tätig.

Zeit ohne Angst

Zum 100. Geburtstag des Schweizer Lyrikers Walter Gross hier ein Briefwechsel in Gedichten mit Johannes Bobrowski.

Am 16. Dezember 1963 schrieb Gross einen Brief an Bobrowski, dem er fünf Gedichte beilegte, darunter dieses Bobrowski gewidmete und ihn zitierende.

An Bobrowski

Zeit ohne Angst

Der am Tisch mir gegenüber,
dem das Haar in den Nacken wächst,
der sein Brot bricht und schweigend
die Suppe löffelt,
während mir die Ader am Halse schwillt
vom zuviel an Unrecht noch und Not,
er ist's, mein Bruder.

Bleibe ich ruhig,
wenn er sagt: morgen,
es kommt der Tag, die Zeit ohne Angst,
schon ist der Fallwind im Tal,
von den Bäumen fällt die Last,
der Schnee.

Walter Gross - Winterthur/Schweiz

Bobrowski antwortete am 2.1.1964.

Antwort

Über den Zaun
deine Rede:
Von den Bäumen fällt die Last,
der Schnee.

Auch im gestürzten Holunder
das Schwirrlied der Amseln, der Grille
Gräserstimme
kerbt Risse ins Mauerwerk, Schwalbenflug
steil gegen den Regen, Sternbilder
gehn auf dem Himmel,
im Reif.

Die mich einscharren
unter die Wurzeln,
hören:
er redet,
zum Sand,
der ihm den Mund füllt – so wird
reden der Sand, und wird
schreien der Stein, und wird
fliegen das Wasser.

Johannes Bobrowski

Aus: Walter Gross: Antworten. Ausgewählte Briefe von und an Walter Gross. Hrsg. u.m.e. Nachwort versehen von Peter Hamm unter Mitarbeit von Erwin Künzli. Zürich: Limmat, 2005, S. 338f.

Immer wenn

Anton Schlösser

Hallo vom Tage

Immer wenn mir Paul Celan
begegnet stecke ich ihn
in die Tüte von W.C.W.
lege ihn auf den Teller
schlucke ihn der köstlich
auf der Zunge zergeht

Aus: Anton Schlösser: Terrarien des Zufalls. Gedichte. Greifswald: Karl Lappe Verlag, 2017, S. 108

Anton Schlösser ist 1935 in Düsseldorf geboren. Der Metzgerssohn studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik, wechselte dann zur Medizin und promovierte dort, spezialisierte sich auf Psychiatrie und wirkte zuletzt als Leiter der Suchtrehabilitationklinik Langenberg in Velbert im Bergischen Land. 

Herr Niemand Frau Niemand Kind Niemand

Marie Luise Kaschnitz

(* 31. Januar 1901 in Karlsruhe; † 10. Oktober 1974, heute vor 50 Jahren, in Rom)

Niemand

Wer nirgends ist, ist niemand. Ich
Auf dem soundsovielten Breitengrad
Aber umgeben von nichts als Wasser und Luft
Bin nicht mehr ich.
Mein starkes Schiff Provence
Ist wie jedes ein Fliegender Holländer.
Kommt nur in Booten. Klettert über die Bordwand.
Da trinken Herr Niemand Frau Niemand
Da schlafen Herr Niemand Frau Niemand
Kind Niemand sitzt auf dem Holzpferd
Ich Niemand schreib in den Wind.

Aus: Marie Luise Kaschnitz: Überallnie. Ausgewählte Gedichte 1928-1965. München: dtv, 1995 (2. neu durchgesehene Auflage), S. 251

Von Pommern nach Köln

Pommern und Dada – Kenner wissen da einiges. Die „Dada-Baroness“ Elsa Plötz alias Endell alias Greve alias Freytag-Loringhoven stammt aus dem Städtchen Swinemünde (heute Świnoujście). George Grosz stammt aus Stolp (Słupsk), und mit Richard Huelsenbeck und Walter Serner studierten zwei der Dada-Protagonisten in Greifswald. Und dann ist da noch Alfred Gruenwald alias Johannes Theodor Baargeld alias Zentrodada, geboren in Stettin (Szczecin). Freilich mussten sie alle Pommern verlassen, um Dada zu treiben. Elsa von Freytag-Loringhoven mischte die Kunstszene in New York auf, andere gingen nach Berlin oder Zürich. Baargeld wurde Mitbegründer von Dada Köln. Begraben ist er auf dem Kölner Melatenfriedhof (Flur 73a). Nach langer Verwahrlosung wird das Grab heute auf Privatinitiative gepflegt. Man erkennt es an Kleinmünzen, die immer darauf liegen. Im September hatte ich Gelegenheit, es zu besuchen und ein Trankopfer zu bringen.

Mit dem bürgerlichen Namen Alfred Emanuel Ferdinand Gruenwald wurde Baargeld am 9. Oktober 1892 im damals preußischen Stettin, heute Szczecin/Polen, geboren. Seine Schulzeit verbrachte er in Köln, wo sein Vater Heinrich Gruenwald als Generaldirektor einer Rückversicherungsgesellschaft wirkte. Der Vater war ungarisch-jüdischer Herkunft, die Mutter entstammte der Familie eines Stettiner Reeders und Großhandelskaufmannes.

Walter Vitt, ebd. S. 39

Das heutige Gedicht erschien im Februar 1919 in der von Baargeld herausgegebenen Zeitschrift „Der Ventilator“ (anonym, aber vermutlich vom Herausgeber, s.u.).

Johannes Theodor Baargeld

(* 9. Oktober 1892 in Stettin; † 18. August 1927 am Mont Blanc)

FEBRUAR IN MITTELEUROPA

Die Vorstädte wollen nicht mehr und gehn
In die blanke Stadt, die ihnen gehört.
Bis Aachen sind die Vorstädte umgelegt und geleert.
In Kiew blieb eine Brandmauer stehn,
Von den 6. Etage-Erfrischungssalonen
Der Kaufhäuser, von Dachbalkonen
Kann man die Brandmauer von Kiew sehn
Und davor den gehängten Mörder des General von Eichhorn!
Von Italien kommen Apfelsinen gerollt,
Die in Deutsch-Oesterreich hängen bleiben.
In den Meeren sich die ungefangnen Fische reiben.
Ein Heringsheer um Holland tollt.
Von Kopenhagen bis München
Suchen die Uhren einen Schlag –.
Ihr müßt die guten Menschen schneller lynchen!
Patrioten waschen ihr blutiges Stärkehemd für den Haag.
Die höheren Schichten machen Musik und Kunst,
Versicherungsbeamten streiken,
Die Sommerreisen sind verhunzt;
Geht doch wenigstens in unsere populären Symphoniekonzerte ...!
Spartákus duckt sich, wenn die Truppe kommt –
Die Bürger setzen ihren Meister wieder ein.
Der ohne klug zu werden hat gebrommt –,
Spartákus lauert, wann die Welt verkommt –
Und keiner will mehr Pfaffenlatein
Nirgendwo hören.
Von dem Lande,
Aus dem Sande
Flieht der Bauer
In das Stadtgemauer.
Lauer
Wird es den verantwortlichen Stellen zu Mut.
Ja, von Blut
Träumen in den Armen bei den Bräuten
In ihren satten dicken Volksmannshäuten
Die jammernden Volksmänner.
Von Weimar kommt wöchentlich noch ein Renner
Mit dem Kurszettel der Nationalversammlung
Seit der Generalversammlung
Der parlamentarischen Geleise.
Weise, weise
Nistet der Mitropa-Zug in Weimar.
Für den Kinotrust spielt Heimar
Sölljen angenagt den Kavalierropäer.
(Das Kino ahnt den Lauf der Welt!)
Damit es jenen Typus, eh' er
Zerplatzt, der Welt im Film erhält! –

(1919)

Aus: Johannes Theodor Baargeld: Texte vom Zentrodada. Herausgegeben von Walter Vitt. Siegen 1987 (Vergessene Autoren der Moderne XXX), S. 6f. Erstdruck: ‚Der Ventilator‘, Köln, Februar 1919, 1. Jahrgang, Nr. 4.

Das Gedicht ist dort anonym abgedruckt, doch spricht einiges für die Urheberschaft von Baargeld-Gruenwald, vor allem der anzutreffende Typus von Wortschöpfungen, die sich – so oder ähnlich – auch in anderen Versen dieses Autors finden: brommen statt brummen; Volksmannshäute; Kavalierropäer. (Baargeld-Gruenwald war Herausgeber des ‚Ventilator‘). (Anm. des Herausgebers Walter Vitt, ebd. S. 28).

Grab auf dem Kölner Melatenfriedhof

Betrachten wir denselben Mond?

Noch ein Gedicht aus der Caspar-David-Friedrich-Anthologie.

Adrian Kasnitz

(In Betrachtung des Mondes)

Als wir in Neuruppin am See saßen
schauten wir aufs selbe Wasser
das im Dunkeln lag, nur eine helle
Delle schien über dem Wald: die Nacht
von Berlin oder wer weiß welches Ding da
in der Einöde landete, schimmerte

Manchmal stehen wir nachts am Fenster
und sehen dem Baum zu, wie er sich
heimlich bewegt, ein paar Zentimeter nur
aber auch knorrige Alte bewegen sich

Du in Leipzig, ich auf einer fernen Insel
betrachten wir dasselbe, denselben Mond?

Aus: Der Horizont ist bloß eine rhetorische Figur. Zeitgenössische Lyrik zu Caspar David Friedrich. Hrsg. Anne Martin und Dirk Uwe Hansen. Leipzig: Reinecke & Voß, 2024, S. 148

13 x 19, 196 S., 16 Euro, ISBN 978-3-942901-52-9

(in Betrachtung der Kreidefelsen)

Caspar David Friedrich, Kleine Stubbenkammer, 11. August 1815. Grafitstift. Nationalmuseum Oslo. Notiz am oberen Rand: „Noch zweimal so hoch der Horizont“. – Interessantes Detail im Vergleich mit dem berühmten Gemälde: in der Skizze ist der Strand angedeutet, auf dem Gemälde fällt er weg: Unendlichkeit! (Gesehen in der zweiten Friedrichausstellung im Pommerschen Landesmuseum Greifswald.)

Love Poem

Amiri Baraka

(* 7. Oktober 1934, heute vor 90 Jahren, in Newark, New Jersey als Everett LeRoy Jones; † 9. Januar 2014 ebenda. Als Schriftsteller nannte er sich zunächst LeRoi Jones.)

LIEBESGEDICHT
(Für H.C.)

Ich kaufte früher Bibeln von einem betrunkenen Mann,
Bevor ich entdeckte, daß auch er sie las.
Ich schämte mich zu wissen, daß er weiß.

Die Puter, die noch leben nach Ernte-
Dank, die stolzieren gradlinig über
Die plötzlich brachen Tische. Und zuhören
Wie Landowska spielt nützt nichts. Nicht, wenn man aß.

Es ist mir peinlich zu sagen ich liebe dich, wenn
Ich nackt bin. Ich würd' lieber über die »Fälle« gehn
Mit Glauben bekleidet. Dann könntest
Du nicht sehn, was diese Sachen sagt.

Da waren wir: allein in der Rakete zur Venus,
Und ich mußte das Raketenradio andrehen;
Und Du wolltest nichts als Wetterbericht abhören...
Während ich onanierte, die ganze Fahrt hinauf.

's ist nicht, daß ich irgendetwas davon übelnehme...
Obwohl du es warst, die mir klar machte, es
Gibt keinen Weihnachtsmann. (Ich kämpfte mit deiner
Trüben Sorte Heiligkeit lange bevor ich

Meinen ersten Fernseh-Western sah.) 's ist bloß:
Ich glaube nicht recht, daß du jemals wirklich
Meinen Namen behieltst. Weißt du?

Aus dem Englischen von Marianne Sporleder, aus: Poesie der Welt. Nordamerika. Auswahl und Nachwort Walter Schmiele. Berlin: Edition Stichnote im Propyläen Verlag, 1984, S. 343

LOVE POEM
(For H. C.)

I used to buy bibles from a drunken man,
Before I discovered he read them too.
It made me feel ashamed to know, he knew.

Those turkeys that are alive after Thanks-
Giving, they strut in straight lines down
Those suddenly barren tables. And listening
To Landowska wont help any. Not if you et.

I feel embarrassed to say I love you, when I'm naked.
I'd rather be walking across
The »Falls« in a faith suit. Then you
Couldn't see what's saying these things.

There we were alone in that rocket to Venus,
And I had to have the rocket radio on;
And All you wanted to do was listen to weather
Reports... while I masturbated, all the way up.

It's not that I resent any of these things...
Even though it was you that showed me there
Wasn't any Santa Claus. (I wrestled with your
Dim brand of holiness long before I watched

My first T.V. western.) It's just that,
Somehow, I don't believe you ever really
Remembered my name. You know?

Ebd. S 342

Gegenstrophe

Jayne-Ann Igel

Gegenstrophe (insp. von CDF »Kreidefelsen auf Rügen«)

sprichst in der maskerade deiner rückenansicht, zeigst haltung, die anders nicht zu haben, starrst ins unvertraute, liebliche landschaften sind passé, jeglicher grund aufgehoben, landvermessungssache, der glaube an wesenheiten, die in natur sich widerspiegeln – vorbei, in der schroffheit der gezeiten, von gesteinen, felsabbrüchen, stehst in der kreide mit deinem latein, bis über beide ohren, das urteil wurde schon zugestellt, doch wer spricht schon von vollstreckung, wenn man zu leben meint –

[04/1/2024]

Aus: Der Horizont ist bloß eine rhetorische Figur. Zeitgenössische Lyrik zu Caspar David Friedrich. Hrsg. Anne Martin und Dirk Uwe Hansen. Leipzig: Reinecke & Voß, 2024, S. 27

13 x 19, 196 S., 16 Euro, ISBN 978-3-942901-52-9

Weltuntergang

Bohdan-Ihor Antonytsch 

(ukrainisch Богдан-Ігор Антонич, wiss. Transliteration Bohdan-Ihor Antonyč; * 5. Oktober 1909 in Nowica, Uście Gorlickie, Galizien, Österreich-Ungarn, heute Polen; † 6. Juli 1937 in Lwów/Lwiw, Polen, heute Ukraine)

Weltuntergang

Wie braune Röcke lagern Schwärme
von Raben auf dem klumpigen Dach.
Der Mond erhebt die blauen Arme
als Seher und verflucht die Stadt.

Für alle Sünden und Vergehen,
für Kleinmut, Bosheit und Verrat,
für frevlerische Lasterhöhlen
voll Schmach und Hass und bittrer Not.

Und Lebemänner, Harpagone,
beginnen laut zu psalmodieren,
und wilde Kalibane trommeln,
Hetären, die wie Stuten wiehern.

Abscheulich, graus und mausetot
steigt aus dem Bett die Syphilis,
die Opfer züngeln blutig rot,
gequält von Sardanapolis.

Zwölf Pfeile aus dem Himmelsköcher,
zwölf Winde stürmen losgehetzt,
die Welt mit aufgesperrtem Rachen,
der Kreis der Sonne ganz zerfetzt.

Ein tiefes Grollen, ferne Rufe,
an Mauern schlagen Glockentöne.
Die Stadt verschwindet in der Tiefe,
es flattern Flügel, Megaphone.

4. Januar 1936

Aus dem Ukrainischen von Adrian Wanner, aus: Adrian Wanner (Hrsg./Übers.): Der Klang von Sonnenklarinetten. Drei Lyriker der ukrainischen Moderne. Gedichte ukrainisch-deutsch, mit einem Vorwort von Juri Andruchowytsch. Zürich: Pano Verlag, 2008, S. 133

Harpagon ist die Hauptfigur in Molières Komödie Der Geizige
Caliban, Figur aus Shakespeares Sturm, Verkörperung des unzivilisierten „Wilden“
Hetären, Prostituierte im antiken Griechenland
Sardanapolis, assyrischer Kaiser, berüchtigt für Grausamkeit und ausschweifenden Lebenswandel

Кінець світу

Мов бура плахта, хмара круків
сідає на дахах бриластих,
і місяць, звівши сині руки,
немов пророк, став місто клясти.

За всі гріхи і всі провини,
за малість, зрадність і підлоту,
за злочини, що повне ними
кубло презирства і голоти.

Тоді розпутники і гарпагони
покутних псальмів заспівали,
і калібани били в дзвони
й гетери, мов кобили, ржали.

Мерзенні, сороміцькі, мертві
люїзи з ліжок виходили
й сарданапалів гордих жертви
червоні язики гострили.

Мов стріл дванадцять з неба пращі,
вітрів дванадцять шле додолу,
й Земля розкрила зворів пащі,
й розбите в кусні сонця коло.

Гримить підземний лоскіт здаля,
вдаряє в мури буря дзвонів,
і місто котиться в провалля
під лопіт крил і мегафонів.

4 січня 1936

Ebd. S. 132

Die Bedeutung Antonytschs für die moderne ukrainische Literatur ist mit der Rimbauds für die französische und Lorcas für die spanische vergleichbar.

Juri Andruchowytsch

Mondlied, Frauenlied

Anne Sexton 

(* 9. November 1928 in Newton, Massachusetts; † 4. Oktober 1974, heute vor 50 Jahren, in Weston, Massachusetts)

Mondlied, Frauenlied

Ich bin lebendig bei Nacht.
Ich bin tot am Morgen,
ein altes Schiff, das sein Ol aufgebraucht hat,
kahl und blaßknochig.
Kein Wunderding. Kein Glanzstück.
Ich bin schlecht in Schuß,
doch du bist groß in deinem Kampfanzug
und ich muß mich rüsten für deine Reise.
Ich war immer Jungfrau,
alt und narbig.
Ehe die Welt war, war ich.

Ich werde orangener und dick, karottenfarben, angestarrt,
lasse zu, daß meine angebrochenen O's aufs Meer fallen
bei Venedig und Mombasa.
Über Maine hab ich Pause gemacht.
Ich bin wie ein Flugzeug in den Pazifik gestürzt.
Ich habe Meineid geleistet über Japan.
Ich hab mein Pendel, meinen prallen Beutel,
mein Gold, Gold, schimmerndes Licht
über euch allen
geschwungen.

Wenn du also erkunden mußt, tu es.
Schließlich bin ich nicht künstlich.
Ich habe lange auf dich geschaut,
liebesschwanger und leer,
ließ meine ewige Leuchtreklame flackern
für dich, du mein kalter kalter
Schutzanzugmann.

Du brauchst nur zu bitten
und ich gewähr's.
Es steht praktisch fest,
daß du in mich einmarschierst wie in eine Kaserne.
Also peil mich an, peil mich an,
du vom Abschuß,
du von der Bastion,
du von dem Programm.
Ich mach mein wulstiges Auge zu,
Hauptquartier eines Gebiets,
Haus eines Traums.

Aus dem Englischen von Silvia Morawetz, aus: Anne Sexton: Liebesgedichte. Love Poems. Zweisprachige Ausgabe. Hrsg. Elisabeth Bronfen. Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einem Vorwort von Silvia Morawetz. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1997, S. 86ff

MOON SONG, WOMAN SONG

I am alive at night.
I am dead in the morning,
an old vessel who used up her oil,
bleak and pale boned.
No miracle. No dazzle.
I'm out of repair
but you are tall in your battle dress
and I must arrange for your journey.
I was always a virgin,
old and pitted.
Before the world was, I was.

I have been oranging and fat,
carrot colored, gaped at,
allowing my cracked o's to drop on the sea
near Venice and Mombasa.
Over Maine I have rested.
I have fallen like a jet into the Pacific.
I have committed perjury over Japan.
I have dangled my pendulum,
my fat bag, my gold, gold,
blinkedy light
over you all.

So if you must inquire, do so.
After all I am not artificial.
I looked long upon you,
love-bellied and empty,
flipping my endless display
for you, you my cold, cold
coverall man.

You need only request
and I will grant it.
It is virtually guaranteed
that you will walk into me like a barracks.
So come cruising, come cruising,
you of the blast off,
you of the bastion,
you of the scheme.
I will shut my fat eye down,
headquarters of an area,
house of a dream.

Sextons Wirkung ging über den Kreis derer, die traditionell Lyrik lasen, hinaus. Dies belegen die hohen Verkaufszahlen ihrer Bücher, die bis Ende der achtziger Jahre in mehr als einer halben Million Exemplaren abgesetzt waren. Sie suchte aber auch selbst nach Öffentlichkeit außerhalb der Milieus, in denen Lyrik zirkulierte, beteiligte sich an Read-ins gegen den Vietnamkrieg und trat zwischen 1968 und 1971 mit einer fünfköpfigen Band auf, die sich in Anlehnung an den Titel eines ihrer frühen Gedichte den Namen Anne Sexton and Her Kind gegeben hatte, und trug ihre Lyrik zu Kompositionen der Bandmitglieder in einer Art Sprechgesang vor.

Aus dem Vorwort von Silvia Morawetz

Abendröte, windige, du enteilst?

Ludwig Meidner 

(* 18. April 1884 in Bernstadt an der Weide, Schlesien; † 14. Mai 1966 in Darmstadt)

Hymne auf die schwarze Fassade am Rande der Nacht

Abendröte, windige, du enteilst? Ihr Türen, ihr schnarchenden Türen. Ihr Treppen, ihr Flure, ihr wilden, wilden Fenster. Blutbesudelte, treppauf, treppab. Keller und Boden, Tische und Hoden. Ihr Spinde, Flaschengehäuse und Kuckucksuhren. Gelächter der Hebammen. Aus den Kellerluken fromme Flüche. Aus den Fässern Groll und Hohn. Aus den Kammern eines Kindleins karger Ton…

Über alle Dächer rennt die Nacht. Flennt und lacht. Menschen, in euern Budiken, zerdrückt und zerschlissen. Wisperer in den tiefen Alkoven, zerbrechet das Schneckenhäuslein um euch… Bettelpack hinter Dächern. Hinter Fächern feile Dirnen. Hinter Stirnen, Firnen, Hirnen… Frohlockende, rötliche Nacht. Menschenluder, heraus aus eurer Trübsal! Blast die magern Backen auf und schlagt Alarm. Reveille aus euren Hintern. Ächzende Flüche der Kommoden. Der Grammophone Gurren. Der Bettgestelle Knurren. Gesang der Kakerlaken in Kabache und Kabuse!

Nacht, Nacht! wann erhebst du deine heißen Hände und entzündest die Bauten, die Balken, die bellenden Balkone?! Wann schreist du, Wanst, hell auf?!!

Aus: Gerda Breuer, Ines Wagemann: Ludwig Meidner. Zeichner, Maler, Literat. 1884-1966 Band II. Stuttgart: Hatje, 1991, S. 358.

Verpasst

Tom de Toys, 7.3.2024 © POEMiE™

GERISSEN
(VERPASSTE POESIE)

im grunde müsste zunächst einmal abgeklärt werden ob ein erfolgreiches gedicht überhaupt derartige symptome aufweisen darf mit denen der autor ganz eindeutig vermeiden will über die bedeutung der ersten zeile wie ein debiler debutant vor dem publikum zu diskutieren obwohl es sich hierbei um die entscheidende ja sogar einzige frage handelt die doch von anfang an wie ein böses omen im raum steht denn niemand geht gerne zu einer lesung die bereits in der ersten zeile zum scheitern verurteilt ist und den sogenannten lyriker als dilettant auszeichnet für den sich berechtigterweise noch nie ein verlag interessieren konnte das wort KONNTE wurde bislang in diesem gedicht noch nicht verwendet wodurch es ein alleinstellungsmerkmal erzeugt und den zuhörer darüber hinweg täuscht dass BISLANG alles gesagte komplett inhaltslos zu sein scheint und darauf hin steuert das nahende ende vorwegzunehmen indem das wort ENDE schon vor dem schluss auftaucht weil der vortragende damit suggerieren will schon längst etwas bedeutsames artikuliert zu haben was bei allen zuhörern im eifer des gefechts einfach unterging die katastrophe ist damit ein einziges desaster die tagesschau sieht sich gezwungen von demonstrationen zu berichten bei denen auf überdimensionalen schildern nur 1 wort zu lesen ist: „EINSTAMPFEN!“, obwohl das gedicht gar nicht gedruckt sondern nur dieses eine mal auf der bühne live vorgetragen wurde die halbe nation hat das sowieso verpasst das land ist erst durch die mediale verbreitung dieses literarischen skandals gespalten während die einen von einem avantgardistischen geniestreich sprechen behaupten die anderen den namen des dichters noch nie irgendwo gelesen oder gehört zu haben wir schalten jetzt live in den saal um den übeltäter beim verfassen des titels zu beobachten und sehen nun wie er von einem empörten lyrikfan eine verpasst bekommt er blutet gewaltig aus seiner nase sanitäter werden herbei gerufen aber es ist zu spät dieser selbsternannte schriftsteller hat den bogen überspannt und verblutet in seinen eigenen metaphern wir schalten zurück ins studio – die lottozahlen…

Entnommen aus: Tom de Toys „DAS ABSOLUT WAHRE BUCH – Lesbare Live-Literatur (Prosa, Poesie, Poetologie und ein Pamphlet)“, BoD Verlag 1.10.2024, ISBN 9783759749444, 14€

Wann endlich

Kaaja Hoyda

Brot und Spiele im Monsun IV.

Wann endlich
endlich
der Dümmste aber auch
begreift
versteht
verinnerlicht
dran glaubt
und schätzt und sich
dran hält
Daß er sich nicht umdrehen darf
wenn er Mensch bleiben will
nicht Salz werden will
Wasser löst Salz
und wird zur Träne
Und so weint sie
und weint
weint aus den Nägeln
und den Füßen
aus der Nase und dem Mund
Weint aus der Brust
Und säugt damit die Erde
die so trocken daliegt
und zurück will an
den Anfang

Aus: Kaaja Hoyda: Brot und Spiele im Monsun und andere Texte. Berlin: SuKuLTuR, 2006. 2. Aufl. (1. 1996) (Schöner Lesen 46), S. 7

Kaaja Hoyda, geboren 1972 in Wattenscheid, Sänger, Texter und Musiker der Band Stendal Blast. Ausbildung zum Krankenpfleger, Studium, Volontariat bei einer Tageszeitung, arbeitet als Journalist und Musikproduzent. Eigene Musik- und Reportagesendung in den USA für das Goethe-Institut. Verschiedene Fernseh- und Buchbeiträge, Kolumnen. (ebd.)