Nuyorican poet verfilmt

[Miguel] Piñero entwickelte eine Ästhetik der Straße aus der Sicht des Outlaws und bisexuellen Abenteurers, des Junkies, Dealers und Diebs. Er zelebrierte seinen Drogenkonsum, kultivierte seinen Zorn gegen das Establishment, den Rassismus und Kolonialismus Nordamerikas. Neben Vorläufern wie den Dadaisten oder den Beatniks haben seine Performances einer literarischen Bewegung den Weg geebnet, die die Sprechweisen von Rap geprägt und die Literatur ins Nachtleben geholt hat.

Der Film verweist mit Nachdruck darauf, dass die Wiederentdeckung des gesprochenen Worts eine Leistung minoritärer Communities war. Die zielten auf gemeinschaftliche Sinnstiftung, wie sie sich beim Lesen eines Buchs nicht herstellt. Schon im Nuyorican Cafe galt, dass sich der Lesende einem intervenierenden Publikum stellen musste. Piñero und seinen Mitstreitern ging es um das, worum es der Slam Poetry noch heute geht: um Spontaneität und Plastizität, Alltag und Gegenwart und um das Material der Stimme, um Lautmalerei, Kakofonie, Reim und Wiederholung. / Susanne Messmer, taz 18.7.02

„Piñero“. Regie: Leon Ichaso. Mit Benjamin Bratt, Talisa Soto, Giancarlo Esposito u. a., USA 2001, 100 Min.

Übersetzung: Entsprechung & Anderssein

Die Übersetzung steht in Beziehung zu dem Text, dessen Wiedergabe sie ist: Sie entspricht ihm. Was aber Entsprechung hier heisst, steht keineswegs fest. Der unreflektierte Anspruch ist meistens die utopische Gleichheit von Original und Übersetzung, also eigentlich deren Aufhebung. Denn die Übersetzung als solche ist dem Original nicht gleich, sondern ähnlich, was bedeutet, dass es wesentlich zu ihr gehört, auch anders zu sein. Nur als andere kann sie entsprechen. …

Jemand hat einmal, für viele vielleicht überraschend, die Fähigkeit zur Suspendierung des Urteils die zentrale Tugend des Juristen genannt. Gleiches gilt für Rezensenten literarischer Werke und besonders für solche, die sich auf dichterische Übersetzungen einlassen, weil es hier eines noch merklich grösseren intellektuellen Aufwands und darüber hinaus eines ausgeprägten Sinns für Dichtung bedarf, um die herrschenden Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Wenn man sich zu verstehen bemüht hat, was ein übersetzender Dichter sich vorgenommen hat, kommt die Bewertung immer noch früh genug.

Hans-Jost Frey, NZZ 18.7.02

Poetry after Adonis

A pioneer of the prose poem, he has played a role in Arab modernism comparable to T. S. Eliot’s in English-language poetry. The literary and cultural critic Edward Said calls him „today’s most daring and provocative Arab poet.“ The poet Samuel Hazo, who translated Adonis’s collection „The Pages of Day and Night,“ said, „There is Arabic poetry before Adonis, and there is Arabic poetry after Adonis.“ Experimental in style and prophetic in tone, Adonis’s poetry combines the formal innovations of modernism with the mystical imagery of classical Arabic poetry. / Adam Shatz, NYT 13.7.02

Wem gehört Emily Dickinson?

In einem weiteren Artikel erklärt Werner von Koppenfels, warum der Harvard-Verlag seiner erweiterten Neuausgabe einer Textauswahl von 1995 den Abdruck der Originaltexte verweigerte – ein Skandal ersten Ranges:

In jedem Fall ist dieser «Schutz», den ein angesehener Universitätsverlag einer Dichterin von Weltrang exakt 115 Jahre nach ihrem Tod angedeihen lässt, ein denkwürdiges Exempel globaler Wirtschaftslogik in geistigen Dingen. Wenn die Verantwortlichen (was nicht anzunehmen ist) das Werk der dergestalt Beschützten gelesen hätten, wären sie auf das folgende Gedicht gestossen, das den Kasus a priori angemessen glossiert: «Publikation – ist die Auktion / Von Menschengeist – / Rechtfertigt – Armut / Solche Scheusslichkeit? / . . . Gedanken sind des Gebers Gut – / Und darum – verkauft / Ihr Materielles Abbild – nur – / Für Königliche Luft – / Mit vergütet – sei der Makler / Dieser Himmelsgnade – hier darf sich der Übersetzer gemeint fühlen Doch niemals dürft ihr Menschengeist / An Schnöden Preis verraten -» / NZZ 13.7.02

Erschaute Welt statt Epiphanie

Der Literaturteil der NZZ heute (13.7.02) randvoll mit – u.a. – amerikanischer Lyrik. Hier eine Passage zu Emily Dickinson, die mehr als nur übersetzungskritisch interessant sein mag:

Peace is a fiction of our Faith –
The Bells a Winter Night
Bearing the Neighbor out of Sound
That never did alight.

Schlenker übersetzt:

Friede ist eine Erfindung unseres Glaubens –
Die Glocken sind eine Winternacht
Bekräftigen den Nachbarn mit ihrem Klang
Der niemals Licht gebracht.

Man angelt etwas hilflos nach dem, der (oder das?) da bekräftigt werden soll; um so mehr, als ein entsprechendes Verb im englischen Original gar nicht auszumachen ist. Dass «alight» als «Licht bringen» verstanden wird, nähme man einem Mittelschüler nicht übel; ein Übersetzer, der sich an Emily Dickinson wagt, müsste zumindest wissen, dass zwar «to light» tatsächlich «anzünden» heisst, «alight» jedoch «absteigen» oder «aussteigen» bedeutet. Schlenker hätte besser daran getan, den poetischen Freiheiten, die sich die Dichterin – etwa in Form syntaktischer Verknappung – nimmt, etwas genauer nachzuhorchen, als sie sich selbst so keck und voreilig zuzugestehen. In einer Interlinearversion ohne literarische Ambitionen wäre der Sinn des Gedichts wohl am ehesten etwa folgendermassen wiederzugeben:

Friede ist eine Erfindung unseres Glaubens –
Glocken in einer Winternacht
Die den Nachbarn ausser Hörweite tragen
der niemals bei uns abgestiegen ist.

Aus den Wörtern «Glocken», «Winternacht» und «absteigen» könnte die Vorstellungskraft des Lesers selbst den Schlitten, in dem der Nachbar unterwegs ist, und die Schellen am Kummet des Zugpferdes extrapolieren.

Freude hat die Rezensentin dagegen an Mirko Bonnés zweisprachiger Cummingsausgabe:

Weitere Freude bringt dann der Vergleich von Original und Übersetzung: streng in der disziplinierten Geste, der massgeschneiderten Knappheit des Sprachkleides, spielerisch, aber nie mutwillig im Umgang miteinander, präsentieren sich die beiden Fassungen wie eine Truppe von Trapezkünstlern, fliegend und bunt in der Höhe der Zirkuskuppel: ein Schauspiel, das bezaubert und den Atem verschlägt.

Not un deux trois der die Stood(apparition)

dichtet Cummings. Bonné kontert:

Nicht er he le ahn döh Bare(erscheinung)

Da ist in er he le die Sprachtrias deutsch/englisch/französisch aus dem Original herübergebracht; im ahn, döh der Klang des «un, deux» – aber warum in dieser kuriosen Umschreibung? Der Kunstgriff des Übersetzers lenkt die Aufmerksamkeit auf eine vertikale Bedeutungslinie: Das «Nicht er/ahn/Bare» sorgt immerhin für ein Mass an Gewissheit, dass auch das «Not un/der/ Stood» im Original nicht unverstanden bleibt. – Er he le -: wahrhaft erhellend darf man eine solche Übertragung nennen.

Insgesamt geht es bei der Rezensentin Angela Schader (NZZ13.7.02) um folgende Bände:

  • Emily Dickinson: Dichtungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Werner von Koppenfels. Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2001. 367 S., Fr. 34.40.
  • Emily Dickinson: Biene und Klee. Ausgewählt und übersetzt von Wolfgang Schlenker. Urs Engeler Editor, Weil am Rhein 2001. 107 S., Fr. 27.-.
  • E. E. Cummings: 39 alphabetisch. Ausgewählt und übersetzt von Mirko Bonné. Urs Engeler Editor, Weil am Rhein 2001. 90 S., Fr. 27.-.
  • Marianne Moore: Kein Schwan so schön. Ausgewählt und übersetzt von Jürgen Brôcan. Urs Engeler Editor, Weil am Rhein 2001. 145 S., Fr. 29.-.
  • Elizabeth Bishop: Die Farben des Kartographen. Ausgewählt und übertragen von Margitt Lehbert. Mit einem Nachwort von Evelyn Schlag. Residenz-Verlag, Salzburg 2001. 110 S., Fr. 30.70.

Robinson-Jeffers-Ausgabe

In einem weiteren Artikel zu amerikanischer Lyrik stellen Jürgen Brôcan und Lutz Walther die neue kritische Robinson-Jeffers-Ausgabe vor:

The Collected Poetry of Robinson Jeffers. Ed. by Tim Hunt. Stanford University Press, Stanford 1988 (Vol.I, 524 S.), 1989 (Vol. II, 616 S.), 1991 (Vol. III, 490 S.), 2000 (Vol. IV, 566 S.), 2001 (Vol. V, 1130 S.). Je $ 75.-.

Stones of the Sur. Poetry by Robinson Jeffers. Photographs by Morley Baer. Selected and introduced by James Karman. Stanford University Press, Stanford, 2001. 164 S., $ 60.-.

 / NZZ 13.7.02

Ein Streifzug durch die Lyriklandschaft Ost- und Südosteuropas

von Uwe Stolzmann (NZZ 13.7.02) – allein die Nennung der besprochenen Bücher gibt eine beeindruckende Liste, wie sie so im großen deutschsprachigen Feuilleton wohl nur in der Schweiz möglich ist (bei den anderen höchstens, wenn es gerade ein entsprechendes Schwerpunktthema in Frankfurt gibt). (Der überaus geschätzte und unentbehrliche Perlentaucher hat heute 2 Zeilen für die Fülle – gegenüber neuerlichen 13 für eine seit Wochen ausgelatschte hochbedeutende deutsche Literaturdebatte.) Man lese auch die Verlagsnamen und -orte:

Zsófia Balla: Schwerkraft und Mitte. Gedichte. Aus dem Ungarischen von Daniel Muth. DAAD, Berlin 2001. 96 S., Euro 8.60.

Mircea Cartarescu: Selbstportrait in einer Streichholzflamme. Gedichte. Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka. DAAD, Berlin 2001. 75 S., Euro 8.60.

Rodica Draghincescu: Phänomenologie des geflügelten Geschlechts. Gedichte. Deutsch und Rumänisch. Aus dem Rumänischen von Edith Konrad. Edition Solitude, Stuttgart 2001. 119 S., geb., Fr. 27.-.

Janko Ferk: Psalmen und Zyklen. Gedichte. Deutsch/Slowenisch. Edition Atelier, Wien 2001. 107 S., Fr. 27.50.

Mariusz Grzebalski: Graffiti. Gedichte. Polnisch/Deutsch. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Edition Korrespondenzen, Wien 2001. 107 S., Fr. 34.10.

Gustav Januš: Der Schmetterling. Viersprachige Ausgabe. Ins Deutsche übertragen von Fabjan Hafner. Hermagoras-Verlag, Klagenfurt 1999. 215 S., Fr. 30.-.

Pavel Kolmacka: Du sahst, es gibt dich. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Christa Rothmeier. Edition Thanhäuser, Ottensheim an der Donau 2001. 146 S., Fr. 32.-.

Maruša Krese: Selbst das Testament ging verloren. Gedichte. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Edition Korrespondenzen, Wien 2001. 113 S., Fr. 32.90.

Zsuzsa Rakovszky: Familienroman. Gedichte. Ungarisch/ Deutsch. Aus dem Ungarischen von Zsuzsanna Gahse. Edition Korrespondenzen, Wien 2002. 99 S., Fr. 35.40.

Katerina Rudcenková: . . . nicht nötig, mich zu besuchen. Gedichte. Aus dem Tschechischen von Christa Rothmeier und Julia Hansen-Löve. Edition Zwei im Wieser-Verlag, Klagenfurt 2002. 110 S., Fr. 26.60.

Izet Sarajlic: Jemand hat geklingelt. Gedichte und ein Brief. Serbokroatisch/Deutsch. Übersetzt von Marina Achenbach. Verlag Im Waldgut, Frauenfeld 2001. 47 S., Fr. 30.-.

Aleš Steger: Kaschmir. Gedichte. Slowenisch/Deutsch. Aus dem Slowenischen von Gerhard Falkner und dem Autor. Edition Korrespondenzen, Wien 2001. 96 S., Fr. 34.10.

Vaxhid Xhelili: Sehnsucht nach Etleva. Ausgewählte Gedichte. Albanisch und Deutsch. Herausgegeben und aus dem Albanischen übersetzt von Hans-Joachim Lanksch. Limmat- Verlag, Zürich 2001. 96 S., Fr. 32.-.

Uwe Greßmann

Rolf Schneiders Berliner Anthologie würdigt den zu Unrecht vergessenen Uwe Greßmann, U-Bahn / Berliner Morgenpost 13.7.02 – NZZ bringt am 13.7.02 wieder ein Gedicht von Michael Bullock.

„We didn´t foresee the Rushdie case…“

Der Guardian (11.7.02) besichtigt in zwei Beiträgen einen Blasphemieprozeß vor 25 Jahren um ein Gedicht von James Kirkup:

It is 25 years since Gay Times and its editor were convicted of blasphemy for publishing a poem about a Roman centurion having sex with Christ. So just how shocking is the offending poem now, asks Blake Morrison.

Über den Autor. – Das Gedicht ist noch heute für die britische Öffentlichkeit verboten – auch der Guardian zitiert nur einige Passagen. 1997 wurden Ezines wegen Links auf den Text verfolgt. Man findet es trotzdem im Netz – vermutlich außerhalb britischer Rechtsprechung.

Aus der Geschichte austreten,

sich selbst zuschauen – so hält es Jochen Kelter in seinen Gedichten, die zwischen 1997 und 2000 entstanden sind. Daher stehen nicht bedeutsame Angelegenheiten der äusseren Welt an, denn schreibend hat man sich zu den «Windlesern» geschlagen. Nachhaltig prägt sich anderes ein: «was sich gefügt hat / löst sich von selber / wir sehen zu / wie es langsam abtreibt / nichts ist gewollt alles / im Fluss Erinnerung». /Beatrice Eichmann-Leutenegger, NZZ 11.7.02

Jochen Kelter: So ist dann Tag. Gedichte 1997-2000. Ithaka- Verlag, Stuttgart 2001. 120 S., Euro 12.-.

Jürgen Becker 70

(Fast) alle gratulieren heute (10.7.02) Jürgen Becker zum Geburtstag, streiten aber über das Alter: 70 (die meisten) oder 60 (FR in der Überschrift – im Text wechselt auch sie die Meinung):
Süddeutsche (Nico Bleutge):

Aber dieser Wahrnehmungskünstler hat noch stets den genauen Blick wieder gefunden, um weiterzuschreiben: „Zu früh, um in die Gärten zu gehen; da hilft / auch nicht weiter der Konjunktiv. / Die richtige Reihenfolge kommt von allein, ein Seufzer / vielleicht, der Wetterbericht, es nähert sich / ein vergessener Name…kann sein, / die nächste Seite weiß mehr.“

FR (Jochen Schimmang) – ebenfalls mit Gedichtzitat:

„Ginster; mit einer Ansichtskarte / von der Insel Elba kommt Ginster ins / Haus; Proust hat Geburtstag; und / es kommt die Erinnerung an Ginster / in den Jahren, als am Bahndamm / nicht blühte der Ginster.“

In der NZZ urteilt Beatrix Langner bildhaft:

Er jagte den Lakonismus der Nachkriegsliteratur zur Tür hinaus und liess durch die andere den Redeschwall einer neuen Subjektivität herein, den er allerdings nicht bei den Ich-Philosophen und Marcusianern der Sechziger, sondern bei James Joyce gelernt hatte. Heinrich Bölls wohlwollende Mahnung an den Kölner Mitbürger, aus derart Fertigem sei schwer ein literarischer Anfang zu meistern, bestätigte sich nicht. Nach seinem vierzehnten Gedichtband nannte man Becker einen «Topographen des Alltags» und «Baumeister einer Architektur der Erinnerung».

Paul Wühr 75

Nur (jedenfalls in den Onlineausgaben) die FR (Lutz Hagestedt, 10.7.02) gratuliert auch dem nicht minder bewundernswerten Paul Wühr:

Paul Wührs Werk ist schon deshalb eine Bereicherung, weil es radikal bricht mit den als obsolet empfundenen Gattungsgrenzen und -konventionen, weil es Übergänge gestaltet zwischen Hörspiel, O-Ton-Collage, szenischem Denkspiel, Romantheater, Sehtext und Gedicht. Sein Werk ist eine einmalige, radikale und in ihrer Radikalität fundamentale Dichtung, die tatsächlich die ganze Poesie betrifft. Es geht diesem Autor dabei nicht um die Erprobung oder Fortführung von Schreibweisen, nicht um die Variation von Konzepten, nicht um „experimentelle Literatur“.

Lyrikfestival in Köln

Sieben Dichterinnen hatten Sartorius und Thomas Böhm, Leiter des Kölner Literaturhauses, eingeladen. Ein kontrastreiches Programm aus drei Generationen, vier Ländern, zwei unterschiedlichen Sprachfamilien. Passend zur Fußballweltmeisterschaft traf Deutschland, in Gestalt von Barbara Köhler, Ilma Rakusa und Silke Scheuermann , auf Asien, für das die japanische Wahlhamburgerin Yoko Tawada, die Chinesin Xu Pei und die Koreanerin Kim Hyesoon auftraten. Man las in der „Orangerie“, einem Pflanzenhaus mit Glasdach, auf das immer wieder der Regen fiel. Ein Trommelgeräusch, das Barbara Köhler gefallen haben dürfte, deren Vortrag einer Performance glich. Wie ein Rap hörte es sich an, als sie, eine Hand beständig im Takt führend, aus ihrem Band „Wittgensteins Nichte“ etwa „Jemand geht“ rezitierte. „Jemand geht & er weiß dass er fortgeht“ beginnt dieser Text. Ein Satz, der im folgenden auf allen Bedeutungsebenen durchdekliniert wird. „Wenn sie auch geht würde es kein Fortgehen mehr geben“, heißt es weiter, wodurch hinter der scheinbar simplen Aussage plötzlich ein komplexes Machtverhältnis aufschimmert: er kann nur „fortgehen“, wenn sie zurückbleibt und auf ihn wartet. / Süddeutsche 9.7.02

Tawadas Überseezungen

Während Walter Benjamin in diesem Über-Setzen die Fremdheit aller Sprachen gegenüber etwas Unausdrückbarem erfährt und die leise Hoffnung hegt, dass diese Kluft bei der Ankunft des Messias aufgehoben wird, begegnet Tawada diesen Irritationen mit kindlicher Neugier und ohne melancholische Sehnsucht nach einer letzten Offenbarung. «Es gibt nichts Schöneres für mich, als im Theater zu sitzen und stundenlang einer Sprache zuzuhören, die ich nicht verstehe», bekennt sie, und im Staunen über die fremden Zungenreden möchte sie auch der eigenen, längst zur zweiten Natur gewordenen wieder einmal wie «der magischen Unlesbarkeit eines Gedichts begegnen». / Karl-Heinz Ott, NZZ 9.7.02

Yoko Tawada: Überseezungen. Konkursbuch-Verlag, Tübingen 2002. 158 S., Fr. 23.70.

Poetryfilm

Die Poesie ist nicht länger eine bedrohte Gattung – davon ist der Amerikaner Bob Holeman überzeugt. Das sei ein Verdienst des Films, genauer des „Poetryfilms“. Auch Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt, sieht den Poetryfilm seit einigen Jahren im Kommen. Der Film habe nun das Gedicht entdeckt, so wie Anfang der achtziger Jahre die Musik. Wohlfahrt, seit Jahren auf der Suche nach neuen Formen der Vermittlung von Lyrik, sei es im Internet oder als Event auf dem Potsdamer Platz, hat deshalb das weltweit erste Poetryfilm-Festival ins Leben gerufen… / Berliner Zeitung 9.7.02