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Heute vor 50 Jahren starb der, ich sag mal einfach: dadaistische Expressionist Melchior Vischer. Hier ein Gedicht in Prosa aus dem Jahr 1920.
DAS LYRISCHE GEDICHT
Herr Dagobert Schwein saß auf dem Leuchterarm der Proszeniumsloge und aß Zinnsoldaten, Trompeten aus Edelmetall, elektrische Dynamos, vier Spiele Tarock, X%X Käseaktien, zwei Krawatten, 16 Stück Keuschheitsgürtel zum Gebrauch für Rabbinerfrauen, 1/4 Kilo Kokosnußsalat, und als Dessert zwei Rembrandts und eine Skizze von Picasso. Zum Schluß als einen trefflichen Magenbitter 3 Millionen in papierener tschechoslowakischer Valuta. Das alles verdichtete sich in Dagoberts erlauchtem Magen zu einem leise weinenden Gedicht. Kein Autobus mit selbstfunktionierender Wasserspülung war es, kein Tank, geölt mit Onaniertränen englischer Sufragettenjungfrauen, nein, das allein war ein schönes feuchtlyrisches Ragout, geballt zu einem Magensaftfußball, der gern zum Opernhaushimmel emporgestiegen wäre, o wie brummen die Gebete gotischer Dome, o wie hellklingen die tauben Leiber abgetriebener Jungfrauen, o, o und oh! nun sang unten der italienische Tenor eine voklane Kanzone, ein Opernglas fiel und ließ seine Glassplitter in den Angstduft verfließen, der aus dem Seidendessous der jungen Gräfin sich hervorgeisterte, Herr Dagobert Schwein lachte aber bloß. Wer ein Schwein ist, bleibt eben immer ein Schwein. Dann als die hochdramatische Szene ansetzte, erbrach sich Dagobert mit einem schönen, hell, bald darauf dumpfglucksenden Rülpser, sehr zur Freude des Logenschließers, der eine silberne Schüssel bereit hielt / auf der er sonst Austernbrötchen servierte / und Herrn Dagobert Schweins prachtvoll gemischtes sülziges Magenkompott mit einer eleganten Handbewegung und unter vornehm schlichter jesuitischer Augenverdrehung auffing und dazu ein starkes Dollartrinkgeld. Erleichtert, beinah triumphierend ließ Herr Dagobert Schwein seine Blicke durchs Haus gleiten, das froh der Pause entgegenatmete und schrie recht kommunistisch: „Ja, ja, die Zivilisation, ist das nicht wie ein Präservativ, beide täuschen einen Zustand vor, „als ob“!“ Dann machte er „hähä“.
Auch das Publikum seufzte tief ergriffen „hähä“ / sozusagen kollektiv / .
Aber Herrn Dagobert Schweins Hähä übertraf alle anderen Hähäs.
Aus: Melchior Vischer, Unveröffentlichte Briefe und Gedichte. Mit einem Vor- und Nachwort herausgegeben von Raoul Schrott. Universität/Gesamthochschule Siegen 1988 (Vergessene Autoren der Moderne 32), S. 19
Aus dem Nachwort von Raoul Schrott
Im „Lyrischen Gedicht“ ist der Vortex dann alleiniges Thema, „sülziges Magenkompott“ aus Kulturresten, die ein schon zur Karikatur gewordener Baal erbricht – Zeichen also der durch den Vortex verzerrten Dialektik. Die zynische Konsequenz des Vaihingerschen „als-ob“, die am Schluß gezogen wird, bestätigt den Zusammenbruch des apollinischen und dionysischen Gefüges. Aber die Vaihingersche Anerkennung des Gegebenen, die ohne die Ekstatik Nietzsches auskommt, geht in einem Lachen der Aggression – einer vorläufigen Definition des Grotesken – unter; ein pervertierter „Wille zur Macht“ hat die alte Dialektik ersetzt:
„Aber Herrn Dagobert Schweins Hähä übertraf alle anderen Hähäs.“
Ebd. S. 32
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