Schwitterdebatte

Da die Kommentarfunktion von WordPress nicht sehr übersichtlich ist, stelle ich hier noch mal die gesamte sehr spannende Debatte zwischen Autor und Kritiker in chronologischer Folge zusammen. Sie erinnert mich ein bisschen an die Frühzeit der Lyrikzeitung vor 15, 20 Jahren, bevor die „sozialen Netzwerke“ alles aufgesaugt und in den Algorithmen für immer versteckt haben, als es viele solcher tage-, wochenlanger Debatten gab. (Sie alle sind hier gespeichert und können anhand von Namen oder Schlagworten gefunden werden. Probieren Sie das mal mit Facebook!)

Unter den einzelnen Kommentaren steht jeweils Datum und Uhrzeit. M.G.

Kommentare zum Schwitteressay

fabianstephangeorg

Bereits an dieser Stelle mit einem Kommentar vorzugreifen, ist vielleicht ungebührlich. Schliesslich sollen noch weitere Teile von Bertram Reineckes Essay folgen. Sei’s drum. Womöglich ergibt sich durch verfrühte Interventionen auch ein interessantes Wechselspiel zwischen Rezeption und Produktion, selbst wenn Bertram aufgrund der Kommentare nachträglich kein Jota an seinem ursprünglichen Essay ändert, denn dieser liegt wahrscheinlich schon in Gänze bei der Redaktion der Lyrikzeitung.

Mit Freude bin ich auf die Erwähnung der Wahrscheinlichkeit gestossen, die zumindest in der naturwissenschaftlichen Beschreibung der Welt seit dem 19. Jahrhundert zunehmend der modus operandi geworden ist. Gedichte also anhand der involvierten Parameter nach der Wahrscheinlichkeit ihres Erscheinens zu betrachten, ist eine weitere Querverbindung zur Naturwissenschaft, von denen doch insgesamt, wenn auch nicht im ersten Band, reichlich vorhanden sind bei den fünfzeilern.

Methodisch wiederum gleicht Bertrams Vorgehen selbst den naturwissenschaftlichen Praktiken. Fast scheint es, als kämen bei der akribischen Beschreibung des Aufbaus dieser Bände so wunderliche Instrumente zum Einsatz wie ein Spektrometer oder die Elektrophorese. Gespannt sein dürfen wir, in welche Tiefen die Analyse peu à peu und pas à pas noch vordringen wird. Und vor allem: Welche Darstellungen sie hervorbringen wird.

Eine solch analytische Herangehensweise ist überdies folgerichtig angesichts der Tatsache, dass die fünfzeiler auch schon unter den Begriff der «quantitativen Literatur» subsumiert worden sind. Die Aggregation der fünfzeiler erfordert Massen, die selbstredend unterschiedliche Individuen umfassen. Aber nur so können sich die fünfzeiler mit jedem Band zu emergenten Strukturen fügen. Die Vielzahl dieser fünfzeiler bestätigt Bertrams Feststellung in der fünften Fussnote fast von selbst:

«Schnell wird auch ein weniger glückender Text der Form an sich exemplarisch angelastet und damit auf alle Texte übertragen, während wir uns irgendwie daran gewöhnt haben, dass schwache, ja tausende schwache Gedichte nicht gegen den Umstand sprechen, dass es auch gute Gedichte gibt.»

Ob ihrer Vielzahl, wollen wir ehrlich sein, sind schlechte Gedichte fast eine Bedingung der Existenz von fünfzeilern überhaupt. Charmant bleibt dennoch die Hinwendung zur Frage nach der Schwierigkeit, die doch meist auf die Schwierigkeit der Texte für die Leser:innen referiert. Dass die Schwierigkeit der Herstellung eines Texts auch eine Frage sein kann, geht – aber da spaltet sich die Leser:innenschaft ja auf in demonstrative Geniesser:innen, die ständig auf der Suche nach der nötigen Zeit zur Lektüre von Gedichten kaum zum Lesen von Gedichten selbst kommen, und demonstrative Verachter:innen, die ebenso selbstbewusst wie -verständlich schon über die unumgänglichen Freiräume zur Lektüre opulenter Romane verfügen – in der konsumistischen Perspektive unter. Allerdings ist umgekehrt die Produktionsperspektive auch meist eine Frage für Eingeweihte, die sich mit dem Verfassen von Gedichten beschäftigen. Was tun angesichts dessen? Das Changieren zwischen der Rezeptions- und der Produktionsperspektive ist ein ständiger Balanceakt, dem zumindest die fünfzeiler formal Raum bieten könnten. Erscheinen sie in ihrer Symmetrie nicht auch bisweilen wie eine Waage?

läsen wir allein
die ganze
zeit
was wir zu
schreiben noch hoffen

Da es bei den fünfzeilern jedoch wie bei Bertrams Essay nicht zuletzt um das Ganze geht, bin ich gespannt auf die Fortsetzung von Bertrams Ausführungen.

04.03.2025 um 09:50

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dubler

Lieber Fabian,

Danke für Deine freundlichen Worte. Insgesamt möchte ich dazu ein paar Sachen bemerken: Der Essay liegt bereits vollständig in der Redaktion, sollte sich hier also erweisen, dass ich etwas nicht richtig gesehen oder eingeordnet haben, werden die Folgeteile also Dokumente meiner Irrtümer sein müssen.

Früher hat es mich immer gewundert, wenn meine Essayistik Menschen hier an Naturwissenschaft erinnert hat. Ich denke, argumentierte Folgerichtigkeit und hier und da ein wenig Rechnen sind doch auch in der Geisteswissenachaft am Platze, selbst bei der Urlaubsplanung und so weiter.

Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, dass GeisteswissenschaftlerInnen dem auch gern ausweichen, sodass es etwas Besonderes scheint. (Eher ein kontinentaleuropäisches Problem, Aus anglophonen und skandinavischen Ländern nehme ich das etwas anders wahr, aber das ist eine andere Geschichte.)

Ich glaube nicht, dass man so scharf trennen sollte, zwischen Fragen der Produktion, die dann eine Sache von Eingeweihten wäre, und der Rezeption für Genießer. Natürlich werden produktionsorientierte Erwägungen viel zu selten angestellt und Lesende mögen sich erst einmal orientieren müssen, aber: JedeR LeserIn von Gedichten benötigt implizites Wissen wie Gedichte gemacht sind, um sie mitzuvollziehen. Man muss Muster von Wahrscheinlichkeiten auf den Text übertragen, damit die lyrischen Mittel wirken können als Bestätigung oder Abweichung. Wie ein Tänzer, der sich wundern würde, würde sein Discobeat von 180bpm plötzlich in einen Walzertakt übergehen, schwingt sich einE LesenedeR in ein Versmaß ein, errät Fortsetzungen usw. Und dieses produktive Wissen ist kinderleicht: Wenn sie lachen über Verse wie „Zwischen Rosen und Narzissen / hat ein kleiner Hund geschlafen“ dann bemerken sie eine Abweichung von einer Erwartung, die sich aus einem metrischen Schema, einem Strophenmuster und dem Reim ergibt. Sie müssen also drei Dinge zusammendenken.

Ob ein poetologischer Text dann zugänglich ist oder nicht, liegt eher an Stil und Plastizität der Darstellung. Wie gut mir das gelingt, müssen natürlich andere beurteilen. ( Bei bestimmten „sensiblen“ Interpretationen fühlt es sich ja manchmal eher bloß so an, als verstände man, sollte man sagen, was da verstanden wurde, merkt man dnn später, dass man nichts greifen konnte.)

Insgesamt scheint mir ein produktionsästhetischer Ansatz also potentiell sogar einen weiteren Interessenkreis anzusprechen, als die Schilderung von Lektüreimpressionen eines Reinecke. Ich habe aber diesen Ansatz nicht deshalb gewählt, sondern erstens, weil mich das interessiert und zweitens suchte ich einen Aspekt, der durch alle drei Bände trägt.

Die Fußnote 5 bitte ich, nicht überzustrapazieren. Sie sollte nur den im Haupttext ausgeführten allgemeinen Gedanken vervollständigen, ich habe dabei gar nicht an Dich gedacht. (Auch, wenn ich nun sofort sehe, dass diese Fußnote ein gutes Sprungbrett zu einigen Überlegungen Deines Essay bilden könnte, die ich aber weitgehend außen vor lasse. Es gäbe darin noch so viel mehr, worüber man reden könnte, was aber fortfällt!)

04.03.2025 um 22:01

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fabianstephangeorg

Lieber Bertram

Mein Verweis auf die Publikationsweise, dass dein Essay eben fortlaufend erscheint, war keinesfalls so gedacht, dass retrospektiv noch Retuschen nötig sein könnten. Dass ich womöglich im Takt des Erscheinens einzelner Teile kommentiere, dokumentiert eher meinen eigenen Lektüreverlauf deines Essays. Es hat etwas Reizvolles, dem Verlauf gleich selbst schriftlich zu folgen. 

Über richtig und falsch zu urteilen, finde ich ohnehin meist uninteressent. Bemerkenswerter ist für mich jederzeit, worauf ein:e Leser:in den Fokus legt. Und dass bei der Weitläufigkeit der „verkettung der / fünfzeiler“ auch zu Hauf Dinge unbesprochen auf dem Tisch liegen bleiben müssen, ist unumgänglich.

Was nun die naturwissenschaftliche Methodik betrifft, so stehe ich doch selbst immer wieder verwundert vor der Tatsache, dass ja gar nicht offensichtlich ist, was für mich geläufig ist. Schliesslich haben die wenigsten Leser:innen deines Essays die Bücher vor Augen. Das war ja auch ein Problem bezüglich der „verkettung der / fünfzeiler“. Wer die einzelnen Bände noch nie gesehen hat, wird sich an mancher Stelle schwertun, den Überlegungen zu folgen. Deswegen habe ich im Vorwort auch selbst versucht, gewissermassen in diesem naturwissenschaftlich-mathematischen Gestus einfach die Bände zu beschreiben, damit wenigstens der Hauch einer Chance für die Leser:innen besteht, die nachfolgenden Gedanken verstehen zu können.

Sicher hast du recht, wenn du auf ein Interesse an produktionsästhetischen Überlegungen für ein breiteres Publikum verweist. Schliesslich gibt es die Gattung der Poetikvorlesungen auch nicht erst seit gestern. Mir ging es einzig um das Wörtchen „schwierig“, das doch meist in Bezug auf die Lektüreerfahrung bezogen wird. Deine Umdeutung jedoch finde ich grossartig! Und den Twist mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung erst recht. Und jetzt mache ich mich auf zum zweiten Teil. Danke dir!

05.03.2025 um 10:09

fabianstephangeorg

Marvellous! Danke für diese wunderbare Darstellung der Sache. Das freut mich wirklich sehr und hat mir beim Lesen stellenweise so viel Freude bereitet, dass ich lachen musste. Nicht zuletzt dringt natürlich ob deiner präzisen Darstellung der Komplexitätsebenen meine eigene Überforderung damit durch. Was wäre doch noch alles zu bedenken gewesen… Am Ende, und das ist für mich Bestandteil der fünfzeilerei, bin ich natürlich immer auch pragmatisch. Ein Buch muss eben auch geschrieben sein.

Sich ein wenig ertappt zu fühlen, ist allemal befreiend. Wie kommt es zu den referierten Autor:innen? Es ist schlicht und ergreifend die akademische Bildung (diese Vermutung kommt in Fussnote 9 auch zur Sprache). Und insofern hat Bertram recht, dass es weitaus glaubwürdiger gewesen wäre, an entlegeneren Orten nach Anknüpfungspunkten für die fünfzeiler zu suchen. Aber das könnte ja noch werden…

Was wiederum hochgradig unwissenschaftlich ist, ist der Umgang mit den angeführten Autor:innen. Es geht mir weit mehr um die Schulung des eigenen Denken als um die korrekte Wiedergabe historischer Zusammenhänge. Das ist natürlich immer wieder unredlich. Ein bedenkenswerter Punkt bleibt jedoch jederzeit, dass Intention und Wirkung bisweilen auseinanderklaffen können. Ob nun Stolterfoht mit seinen „fachsprachen“ geben Celans Dichtungskonzeption angeschrieben hat oder nicht, ändert wenig an möglichen Verwandtschaften contre coeur. So können zwei Autor:innen letztlich aus entgegengesetzten Richtungen kommend beim selben landen.

Bemerkenswert sind Bertram Beobachtungen zur Stimme. Ich habe das eine oder andere Mal die Erfahrung gemacht, dass Reziptient:innen von meiner Vortragsweise der fünfzeiler überrascht sind. Von mir gesprochen treten die Zeilen gar nicht mehr hervor. Der fünfzeiler wirkt dann fast sentenzenhaft prosaisch, was manchmal mit dem Inhalt korrespondieren mag und manchmal vom Inhalt konterkariert wird.

Pointiert ist nun auch (und das bezieht sich auf den zweiten Kommentar zum ersten Teil des Essays), dass fotografische Abbildungen der Bücher offenbar unerlässlich sind für das Verständnis. Das zumindest bestätigt für mich mein Vorgehen. Wiewohl die Stimme und andere klangliche Elemente durchaus ihren Platz haben in den fünfzeilern, ist ihnen in Buchform nicht ohne diese Abbildungen beizukommen. 

Die erwähnte Erbsenzählerei in der letzten Fussnote kann ich natürlich leicht auflösen. Es sind immer fünfzeiler, die bereits in den ersten Bänden stehen. Solche Pedanterie ist nicht nötig. Aber bezüglich Cédric Weidmanns Namen möchte ich doch korrigierenden eingreifen. Ob das nachträglich noch richtiggestellt werden kann?

In Vorfreude auf den nächsten Teil!

05.03.2025 um 10:40

dubler

Das sind ja ein paar erhellende Nachträge!

Ich finde „unwissenschaftlich“ aber ein sehr hartes Wort: Theorie hat ja durchaus das Recht, AutorInnen gegen den Strich zu lesen: Literaturtheorie und Literaturgeschichte beziehen sich zwar aufeinander, sind aber in vielem auch zwei verschiedene Paar Schuh. (z.B. sind für erstere synchrone Lektüren oft erhellend, während Literaturgeschichte, abgesehen von Querschnitten in einer Zeit, diachron liest.) Es ist eher das skizzenhafte Deiner Darstellung, die nicht ausreichte, mir die Sache schlüssig zu machen. Dein Buch zieht ja wirklich inhaltlich so weite Kreise, dass an allen Stellen die gleiche Gründlichkeit zu erwarten, einen Band von mindestens 1000 Seiten ergeben hätte. (Wir hatten ja schon darüber geredet, dass ich insofern nicht der ideale Leser Deiner Texte bin, als ich mir manchmal eher Beschränkung und stattdessen gründlichere Ausarbeitung wünsche, während Du Dir eher vornimmst, vielen vieles zu bieten.)

Zwar sehe ich intuitiv eher die Unterschiede zwischen Celan und Stolterfoht, weil ich erlebt habe, wie er mit Celanschem Duktus fremdelt, aber eben genau diese Zeitgenossenschaft kann ja immer auch blind machen: Hinter dem Rücken des Autors (der Autorin) und der LeserInnnen können die Gründe für die Lektüre des einen und der anderen klammheimlich ähnliche sein. (Wie wir ja auch durchaus AutorInnen aus der Vergangenheit auf die gleiche Weise gern lesen dürfen, auch wenn sie sich seinerzeit poetologisch spinnefeind waren. Einer Mitschülerin gefiel einmal eine Arno Holz Parodie so gut, dass sie sie als Gedicht von Arno Holz in der Schule vortrug.)

05.03.2025 um 14:18

fabianstephangeorg

In Sekundenschnelle nehmen, aber das war ja eine Aussage zur Prosa in der «verkettung der / fünfzeiler»: «Also zügle ich mit der Rückbindung der Worte ans Bild das akkumulative Wuchern der Schrift» (S. 106), solche Ausführungen eine Weitläufigkeit an, die zu überblicken eine wahre Herausforderung ist. Dass ich in meiner Beschränktheit bisweilen oder immer wieder Zuflucht bei einem assoziativen Lesen und Schreiben statt beim Fleiss der argumentativen Stringenz suchte und suche, wiese mich noch als klassischen Lyriker aus: Im Gras lag Lerner, im Gras lag Stolterfoht, im Gras lag Whitman… Vor Bertrams argumentativer Redlichkeit ziehe ich den Hut. Er sucht – im Gegensatz zu mir, obwohl ich kaum einen finde: «Ich finde da keinen Ausweg, sage ich resigniert.» (so lautet einer der Refrains der «verkettung der / fünfzeiler», S. 9) – wirklich keinen Ausweg.

Das Eingeständnis der möglichen Ausweglosigkeit bei aller Suche nach Auswegen, müsste Bertrams Feststellung der «unterschwellig moralischen Alternativen» zumindest etwas relativieren. Vor welchen Karren, aber ich will ja der «Maulesel» (verkettung, S. 121) sein, habe ich mich denn spannen lassen? Weder der Sprache als «Werkzeug» noch den «Maschinen» stehe ich trotz aller maschinenstürmerischen Anwandlungen in schwachen Momenten so negativ gegenüber, wie Bertram es aussehen lässt. Vielmehr bin ich mir der Tatsache bewusst, dass diese Maschinen die Voraussetzung eines Essays wie desjenigen in der «verkettung der / fünfzeiler» sind (sowohl Bertram als auch ich schreiben angesichts all dieser Zusammenhänge mit Ctrl. F.). Aber das ist vielleicht auch der Ärger. Und Bertram weist zurecht daraufhin: «[N]icht immer wird seine eigene Position dingfest.» Wo es um eine Position geht, bemerke ich spontan, wäre ihr Verhältnis zur «Haltung», um die es vor allem in Weidmanns Nachwort immer wieder geht, eine Frage wert. Mir scheint, das Ringen um diese Haltung drücke sich in den vielen rhetorischen Fragen, den als-ob-Formulierungen, den Was-wäre-wenn-Rahmungen aus. Und dieser Schwierigkeit – im Gegensatz zur Schwierigkeit der Gedichte – mit Humor zu begegnen, war jedenfalls eine Hoffnung.

In Bezug auf den zweiten Band, die «tausendundein / fünfzeiler», treffen Bertrams Überlegungen sicherlich den Kern. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die durchaus interessante Überlegungen hinsichtlich des tatsächlichen Erscheinens eines Gedichts angesichts bestimmter Vorgaben anstellt, konterkariert allerdings die Forderung, dass an der fünfzeilerei so viel gar nicht «schwierig» sein soll. Im Gegenteil: Sie sollen jederzeit auch «eher lapidar» (verkettung, S. 41) sein können. Das zumindest gilt für einzelne fünfzeiler. Ob Bertrams Ausführungen nun entlarvend sind oder ein wesentliches Merkmal herausstellen, mag ich als parteiischer Leser von Bertrams Essay nicht beurteilen. Die Offenheit der Arbeitsweise hebt Bertram immerhin hervor: «Fortsetzbarkeit ist sicherlich ein wichtiges Merkmal der mechanischen Metapher in Schwitters Aussage.»

Die Haare könnte ich mir ob meiner eigenen Voreingenommenheit ausraufen. Bei nochmaliger Lektüre des Essays stelle ich fest, dass völlig unklar bleiben muss, worauf sich die Aussage über das «klaustrophobische Ineinandergreifen der zweckrationalen Zahnrädchen» bezieht. Einzig und allein in meiner Birne ist klar, dass damit natürlich die Banderole gemeint ist, wenn vom «Bild der Stetigkeit mündlicher Rede im kontinuierlichen Satz» und vom «Bild der Diskretheit schriftlicher Zeichen im diskontinuierlichen fünfzeiler» (verkettung, S. 100) die Rede ist. Zum Kuckuck mit diesen gestelzten Bezeichnungen «Kontinuität» und «Diskontinuität», immerhin weise ich sie als «Steckenpferde» (verkettung, S. 68) aus. Aber mit Bild ist tatsächlich und jederzeit das Schriftbild gemeint. Vielleicht ist diese Verwechslung aber geradezu sinnfällig angesichts der Gefahr von «Verwechslungen» (verkettung, S. 74), die auch zum Thema wird.

Geht es jedoch um diese Zweckrationalität, so gestehe ich sofort zu, dass sie hauptsächlich ein ideelles Konstrukt ist. In der schematischen Darstellung zweier Extrempositionen könnte vielleicht deutlicher werden, worauf die verkürzten und nicht immer präzisen Darstellungen in der «verkettung der / fünfzeiler» abzielen. Die sozialistische Planwirtschaft greift prinzipiell von Vornherein in den Produktionszusammenhang ein. De facto brachte sie eine Mangelwirtschaft hervor. Die Wirtschaftspolitik in den kapitalistischen Staaten des Westens, die den freien Markt konzeptuell sich selbst überlassen sollten, aber de facto eingreift, scheut sich vor den Konsequenzen und tendiert dazu, kosmetische Eingriffe vorzunehmen, die insbesondere seit der neoliberalen Wende kaum mehr dazu beitragen, das ökonomische Los der Gesellschaft als Ganze zu verbessern. Vielmehr zeigen die jüngsten Ereignisse etwa in den USA, dass sich wieder oligarchische Strukturen herausbilden, die dem Zeitalter der «robber barons» nacheifern.

Angesichts einer solch geistigen Überspanntheit, die dem Wuchern der Prosa über Gedicht zwar gut anstehen mag, aber im luftleeren Raum zuweilen wohl allzu wild um sich schlägt, ist Bertrams Bemerkung bezüglich der Politisierung von Dichtung nicht nur richtig, sondern auf triftig: «Denn zunächst sieht das Tun der Dichtung damit eventuell zwar wünschenswert eingeflochten in die große wichtige Welt aus, trainiert allerdings auch eine Erwartungshaltung von Zeitgenossenschaft und Angemessenheit von Gattungen, die immer ungerecht rigid und streitbar bleiben muss. Dichtung wird sich behaupten, ohne dass sie von irgendeiner Form solcher «Relevanz» Huckepack genommen würde.» Angesichts solcher Hybris dann doch lieber keine Position haben zu wollen, ist vielleicht die notwendige Kehrseite, die umgekehrt wiederum nahelegt, dass die beständige Beschäftigung mit der Welt jenseits der Gedichte – im Sinne des Nachworts Weidmanns vielleicht: «Aber sie gewinnen ihre Bedeutung aus all dem, wie sie es von ihm erhalten.» (verkettung, S. 128) – die geistige Nahrung liefert, um überhaupt Gedichte zu schreiben, die nicht bloss in der pubertären Selbstbespiegelung verharren, die «die verkettung der / fünfzeiler» mit einem Augenzwinkern in Richtung des Verfassers auch vorgeführt. Und ein wenig Lyrik soll jetzt wirklich auch noch sein:

Ich möchte meinen Blick nicht in die Zukunft wenden,
meine Kraft nicht an die Vergangenheit verschwenden.
Ich möchte daran denken, was im Jetzt ist,
und dir dafür danken, dass du bei mir bist.

Das Zugeständnis wiederum, womöglich etwas gemacht zu haben, was gar nicht intendiert war, stelle ich mir als Selbstkritik vor: «Mir ist, aber ich weiß gar nicht, ob ich das will» (verkettung, S. 100). Nicht zuletzt könnten eben auch die fünfzeiler-Bücher nichts als Strategie sein, um mich der jederzeit beissenden Kritik an der Mangelhaftigkeit jedes realen Gedichts zu entziehen: «Aber wahrscheinlich, darin zeigt sich eine Gefahr, ist die Bildung von Gruppen aus fünfzeilern nur noch so eine Strategie, mit dem abstrakten Fluchtpunkt im Virtuellen der bloßen Möglichkeit von ab­soluter Perfektion im Blick eine grundlegende Unzufrieden­heit mit wirklichen Gedichten auszudrücken. Eine Strategie, nicht einzelne Gedichte, sondern ganze Bücher zu machen.» (verkettung, S. 40) Es gibt wohl die eine oder andere Person, die mir ob meines Beharrens auf Struktur vorwerfen würde, mich der gewünschten Kraft der Worte und ihrer drohenden Kraftlosigkeit nicht aussetzen zu wollen. Mir selbst mit Kritik, Ironie und eben auch Humor zu begegnen, war und ist mir zumindest ein Anliegen. Nicht jederzeit zwar sind Witze angebracht, «es sei denn, das Lachen tröstet.» (verkettung, S. 106) Dass vermeintlich unversöhnliche Positionen wie diejenige des Poeten und diejenige der Leserin eine Versöhnung finden, indem beide nach einem feuchtfröhlichen Abend miteinander in der Küche knutschen, finde ich wirklich lustig (jedenfalls musste ich bei erneuter Lektüre des Essays dabei lachen). Und bisweilen ist es ob des realen Ärgers (mit sich und der Welt) durchaus nötig, den Rücken gestreichelt zu kriegen. Auch und vor allem von denen, die einen eine Naselänge voraus sind. Denn vorwerfen lassen würde ich mir jederzeit, mit meinen Figuren (Gamer, Youtuber…) krampfhaft eine Modernität zu mimen, der ich selbst nicht angehöre: «Ja, gut, das stimmt, gibt der Poet konsterniert zu und der Gamer streicht ihm sanft über den Rücken.» (verkettung, S. 33)

Dass wir – Bertram und ich – nicht zum ersten Mal aneinander vorbeireden, so zumindest auch Bertrams Fazit («auch wenn ich offenbar nicht ganz der richtige Leser dafür bin.»), rückt Bertrams Engagement angesichts der fünfzeiler in ein umso bewundernswerteres Licht. Jenseits aller argumentativen Schlüssigkeit und jedes Spiels mit dem Teufel («im Stillen den Advocatus Diaboli zu mimen»), dringt da eine Haltung durch. Und um Haltung ging es von Anfang an. Chapeau!

Danke, lieber Bertram, für die Zuwendung!

P.S.: Was den Höhenkamm betrifft, so sehe ich ungeachtet aller Steckenpferde, wo ein Hund begraben liegt. Es gibt einen Bildungshintergrund, der zumindest offengelegt und in manchem Fällen auch geehrt sein wollte, aber im Vordergrund stehen nun wahrscheinlich noch ganz andere Felder. Weniger Höhe, mehr Weite. Aber dafür bin ich ja jetzt hier, in der Leipziger Tieflandsbucht. Und dann gäbe es da noch die Sache mit den italienischen Feminist:innen. Aber das lasse ich pointierterweise…

16.03.2025 um 17:20

fabianstephangeorg

Und für einmal eine Sachfrage ein Detail betreffend:

Es gleicht wahrscheinlich einer illegitimen Immunisierung, bezüglich der Überlegungen zu Stolterfoht einzuwenden, es handle sich doch lediglich um eine Sichtweise, die überdies noch einem bestimmten Kontext verhaftet ist. Bertrams Einwände treffen einen bedenkenswerten Punkt. Die Entlegenheit von Stolterfohts Vokabular nicht einzubeziehen, ist ein Mangel. Dagegen fragte ich mich jederzeit, inwiefern dem Bauplan der fachsprachen eine Signifikanz zukommt. Was für ein distant reading ist nötig, um dem Ganzen auf die Spur zu kommen? Natürlich kann jederzeit als willkürlich oder zufällig abgetan werden, dass Stolfterfohts fachsprachen organisiert sind, wie sie organisiert sind: gewissermassen eine ästhetische Laune. Aber diese, wenn auch legitime, Sichtweise habe ich jederzeit als zu billig befunden. Also resultiert die Frage, welche Signifikanz dieser Organisation zukommt. Aus dieser (Vogel-)Warte könnte es sich tatsächlich um Setzkästen handeln. Ob die Metapher der Ikea-Möbel stichhaltig ist oder nicht, sei erst einmal dahingestellt. Sicher ist meines Erachtens, dass die Teile bis zu einem gewissen Grad austauschbar sind. Natürlich würde das bedeuten, die fachsprachen weniger als einzelne auszustellen und dafür das Amalgam zu betonen, das Stolterfohts Gedichte ohnehin auch sind.

16.03.2025 um 19:31

dubler

Ich fühle mich jetzt ein wenig umarmt, insofern mag es, auch angesichts des Umstands, dass Du Dich hier bewusst klein machst, etwas schroff wirken, wenn ich an einigen Punkten hier doch noch einmal einhaken möchte, um Dinge, die mir wichtig sind, hier klar zu stellen, weil sie unter dem Reichtum der vielen wichtigen Aspekte, Du hier zusätzlich einbringst, verloren zu gehen drohen.

Immerhin zeigst Du, indem Du diesen Move hier reproduzierst, dass ich einen wichtigen Punkt gemacht hatte, als ich gerade das von Dir aufgemachte Feld zwischen zweckhafter Rationalität (Werkzeuge) und dem spielenden Menschen im Gang Deines Essays beschrieb: „Dass ich … Zuflucht bei einem assoziativen Lesen und Schreiben statt beim Fleiss der argumentativen Stringenz suchte und suche, wiese mich noch als klassischen Lyriker aus: Im Gras lag Lerner, im Gras lag Stolterfoht, im Gras lag Whitman“

Ich zweifle allerdings, inwieweit dieses Bild die Wirklichkeit beschreibt. Unklar bleibt, was einE KlassischEr DichterIn hier sein soll, denn Goethe, Schiller oder Heine zum Beispiel äußerten sich ja argumentativ zum Machweise ihrer oder anderer Gedichte.

Es ist wohl eher so: Einige DichterInnen äußern sich nicht (und lagen im Grase) Lerner, Whitman (ich verlasse mich hier auf Deine Beispiele), andere äußerten sich konzise zu Machen und Machweise von Poesie, sagen wir: Rümkorf, Rainer Kirsch, Ernst Jandl, Ann Cotten oder Ulf Stolterfoht. (Tschuldigung, der gehört in diesem Kontext doch wohl eher in mein Team!) Die Grenze bildet also nicht die Wirklichkeit ab, sondern ist „klassisch“ insofern sie eine hergebrachte Erwartungshaltung des Publikums beschreibt, die durch Feuilletons und auch einige kontinentaleuropäische Literaturwissenschaftliche Traditionen wie etwa die Emil Staiger- oder Gadamer- Schule weitergetragen werden. (Ich vermute, nicht ganz ohne Eigeninteresse: Es kann ja solchen Welterklärgermanisten zu Pass kommen, wenn die DichterInnen „die Schnauze hakten“ müssen, wenn sie nicht die Frage provozieren wollen, ob sie denn echte KünstlerInnen sind, wo sie sich doch so konzise argumentativ äußern.)

Sehr richtig, dass Du hier hinweist auf Signaturen von Zweifel und Ausweglosigkeit in Deinem Text. Das ich in der Tat ebenfalls als einen sehr typischer Zug Deiner Darstellung wahr! Allerdings relativiert das Problem der unterschwellig moralischen Alternativen kaum. Denn während diese Signaturen des Nicht-Entscheiden-könnens auf der Textoberfläche reichlich vorhanden sind, geschieht der moralische Diskurs eben unterschwellig: Durch Setzungen von Rahmungen der Situation. Wenn man abends Gäste hat, zur Uhr blickt und staunend sagt „Es ist aber schon spät“ kann man hinterher zwar explizit auch mehrmals sagen: „Bleibt gern noch, das freut mich“, viele Gäste wird es dazu führen, dass sie nun darüber nachdenken, bald den Heimweg anzutreten, weil einmal der Hinweis auf Verhältnisse der Welt und Konventionen der Gastlichkeit den Rahmen setze. Auf dieser Ebene der Rahmungen sehe ich in Deinem Buch viele Alternativen aufgezogen, die sich auch ethisch-moralisch füllen lassen. (Du tust es nicht selbst, übergibst es aber so den Lesenden.)

Wichtig und in meiner Besprechung unterrepräsentiert ist sicherlich Dein Hinweis auf den Humor. Zumindest kann ich bestätigen, dass sein Buch teils sehr unterhaltsam ist und man die verschiedenen Figuren darin und ihr anarchisches Benehmen durchaus lieb gewinnen kann.

Ich möchte hier auch noch hervorheben, dass es nicht bloß in erster Linie die Gestelztheit der Worte „Kontinuität“ und „Diskontinuität“ ist, die mich davon abhielt, Deinen Kapitalismusvergleich allein auf die Banderole zu beziehen. (Natürlich lässt sich der Begriff Kontinuität zwanglos auf das Fortlaufen des Satzes gegen den Zeilenbruch beziehen und Diskontinuität bezöge sich eben umgekehrt auf den Zeilenbruch der den Satz unterbricht. Zumal Du ja gerade darauf bestehst, den Textraum als Bildraum aufzufassen.) Das Missverständnis beginnt schon da, wo Du das erste Mal im Essay den Zusammenhang der drei Bücher schildert. Dort ist die Banderole zunächst keiner Erwähnung wert: „Aber die verkettung der / fünfzeiler sieht so gar nicht aus wie die beiden vorausgegangenen Bücher, obwohl die Bücher doch aufeinander aufbauen. Fast verschwunden sind die fünfzeiler. An ihre Stelle ist viel Prosa getreten.“ Für mich als Lesenden bedeutet dies, das Wort „verkettung“ im Essaytitel eher auf die lange Reihe der verschiedenen vorgeführten Benutzungsweisen des Fünfzeilers zu beziehen und nicht auf das Projekt in der Banderole, das eher wie eine weitere Dreingabe wirkt.

Auch die Seiten vor dem vor mir untersuchten Satz beziehen sich eher allgemein auf Dein poetologisches Standing, als auf bestimmte Werkkomplexe. Wolltest Du hier speziell über den Text auf der Banderole geredet haben, wäre es jedenfalls besser gewesen, dies dann auch zu markieren! (Insofern Du erwähnst, dass wir schon oft aneinander vorbei geredet hätten, möchte ich hier klarstellen, dass hier die Eigenschaften des Textes mich in eine falsche Richtung sandten.) Vielleicht hier nochmal ein größerer Auszug:

„Der Fleiß des bürgerlichen Romans allerdings, in dem jedes Wort sitzen muss, ist eine wahnsinnige Metapher. Aber was passiert, wenn ich diese Metapher wörtlich nehme? In der Kombination von fünfzeiler und Satz muss tatsächlich an jeder Stelle jedes Wort passen, damit die räumliche Abstimmung funktioniert und sich das Bild der Stetigkeit mündlicher Rede im kontinuierlichen Satz mit dem Bild der Diskretheit schriftlicher Zeichen im diskontinuierlichen fünfzeiler verbinden kann. Und wenn ich ein Wort ändere, ändert sich der gesamte Satz des Gedichts, sodass sich die Systemrelevanz des einzelnen Worts erst recht zeigt. Ist das – beinahe im Geist der Aufklärung – eine längst fällige Ergänzung zu Stolterfohts Setzkastenparodie?“

Ich glaube nicht, dass die diskutierte Stelle einen besseren Sinn ergibt, wenn man beherzigt, was Du zu ihr im Kommentar anmerkst: „Aber mit Bild ist tatsächlich und jederzeit das Schriftbild gemeint.“ Wenn es um das Schriftbild und NUR um das Schriftbild ginge, wäre die Folgerung zweifellos falsch, man könnte ja schon ein Wort durch sinnlose Buchstabenkombinationen ersetzen und müsste am Resttext nichts tun. Es geht ja doch hier irgendwie um das Interplay zwischen dem Textbild und dem Diskurs des Textes. Aber auch kann man zwanglos Worte durch solche derselben, ja sogar bloß ähnlicher Länge ersetzen und im Zweifel durch geschickten Einsatz von Spatien nachhelfen, ohne, dass sich am Text ansonsten etwas ändern muss. (Du betonst ja auch selbst, dass die Eigenwilligkeit deiner Bände nach kundiger Verlagsherstellung verlangte.) Gerade habe ich die Banderole nicht zur Hand, sonst könnte versuchen, dies durch Austauschproben zu exemplifizieren. Und erst recht kann ich hier nicht mit gleicher argumentativer Sorgfalt Strengevergleiche anstellen, wie im Essay in Bezug auf die Neunerblocks.

Die Überlegungen zu Wirtschaft an sich, klammere ich hier ebenfalls aus.

Ich wollte natürlich niemals behaupten, dass sich seine Fünfzeiler je nach Lesart, in welcher Form der Verkettung auch immer, nicht irgendwie zu Gesellschaft verhielten, das tun sie gewiss. Ich wollte nur feststellen, dass man durch ein äußerliches Dekret ihnen nicht mehr konkreten Sinn verleihen kann, sondern schlimmstenfalls eher Lesende in die Irre führt. Ganz allgemein ist sicherlich Weidmanns Feststellung über die Fünfzeiler zuzustimmen: «Aber sie gewinnen ihre Bedeutung aus all dem, wie sie es von ihm erhalten.» (Ich kann mir kaum vorstellen, wie es anders wäre.)

Mir ist auch die selbstkritische Komponente, die Schwitter hier mit der Wiederholung des Satzes «Mir ist, aber ich weiß gar nicht, ob ich das will» betont, nicht entgangen. Ich hatte dazu sogar eine Fußnote formuliert. Ich wurde aber darauf hingewiesen, dass es kontraproduktiv sei, dies zu betonen, da die Gefahr hoch wäre, dass man dies als ironischen Kommentar missdeutete.

Weil ich Lerner nicht auch noch lesen wollte, bin ich auf den Aspekt nicht eingegangen, dass Menschen das einzelne Gedicht ablehnen vor der Folie des perfekten Gedichtes, Menschen die den Glauben an den Möglichkeiten der Poesie vor unvolkommenen Gedichten bewahren wollen. Ohne, wie gesagt, Lerner zu kennen, an dem dieser Teil Deines Essays sich entlang schreibt: Mein schlichter Verdacht ist dieser: Wer seinen Glauben an die Poesie nicht an konkreten Gedichten belegen kann, ist ein Träumer, vielleicht besoffen an schöngeistigem Schrifttum oder ein Schwafler. Und für manchen mag es ja auch einen Benefit haben, sich unter Verweis auf die riesigen Möglichkeiten der Poesie als sensibler Kenner und Liebhaber der Künste zu fühlen und dabei der Tatsache zu entziehen, dass man selbst gar nicht mehr gern liest, bestimmte Dinge aufmerksam zu bemerken auch vielleicht gar nicht in der Lage ist. Gedanklich beziehen sich diese Menschen vielleicht allenfalls noch auf die begeisterten Lektüren der Jugendzeit, wo man vielleicht auf reichlich schlichte Reize reagiert hat. (Was nicht so stark auffallen mag, weil man in seiner Jugend statistisch eher auf bekanntere Texte kanonische Großdichter trifft, die zu loben nirgendwo Anstoß erregt.) Mit besonderer Verve habe ich solche Haltungen alternde Oberstudienräte und Professoren der Geisteswissenschaften vertreten sehen. (Gern verbunden mit der Haltung gegenüber unbekannten Texten: „Wenn das wirklich gut wäre, müsste ich das bereits kennen“) Selbst die naive Schwärmerin/der naive Schwärmer kommt mir als Liebhaber der Poesie da glaubwürdiger vor. Liebhaber sind diejenigen, die viele und immer wieder neue einzelne Texte zu schätzen wissen. Ich versuche, auf diese LiebhaberInnen zu hören und Einwände von anderer Seite nicht zu stark zu internalisieren und wünsche Dir ebenfalls, dass Du Dir Deine Texte nicht durch internalisierte Einwände von solcher Seite vorschnell madig machen lässt.

18.03.2025 um 15:59

dubler

Ich glaube nicht, dass Deine theoretische Entgegensetzung, die sich dennoch auf einem de fakto Argument abstützt richtig ist: „Die sozialistische Planwirtschaft greift prinzipiell von Vornherein in den Produktionszusammenhang ein. De facto brachte sie eine Mangelwirtschaft hervor.“ De facto ist es eher so: Die Gesellschaften bringen offenbar am meisten gesamtgesellschaftlichen Wohlstand hervor, die Freiheit und Vorschriften in ein gutes Verhältnis bringen. Hier bewähren sich seit Jahrzehnten die skandinavischen Wirtschaften. Auch die Bundesrepublik hatte aus dem Nichts Wachstumszahlen, von denen wir heute träumen, in einer Zeit, in der sie stark durch Vorschriften und staatliche Programme gerahmt war.

Die Planwirtschaften des Ostens waren fast generell in der Lage sehr erfolgreich Schwerindustrien aufzubauen. In der Leichtindustrie bzw. Konsumgüterindustrie hielten sie wiederum nicht mit (obwohl das der Sektor war, in welchem die sozialistischen Staaten oft versuchten, marktwirtschaftliche Anreizmodelle zu reproduzieren.) De facto waren sie den entwickelten kapitalistischen Staaten unterlegen. Falken in den USA schreiben es allerdings ihrer Politik zu, dass das sozialistische Wirtschaftsgebiet ökonomisch scheiterte: Indem sie dessen Staaten durch die stetige Aufrüstung dauerhaft dazu nötigten, einen immer höheren Teil ihres Bsp in die Rüstung abzuleiten. Andere verweisen darauf, dass die Planwirtschaft nicht an den Plänen an sich, sondern an den Planern scheiterten, waren die obersten Planer doch eher darauf trainiert, in einem autoritativ totalitären System aufzusteigen und zu überleben, als darauf, eine Volkswirtschaft zu koordinieren. (Vielleicht hatten diese Gesellschaften also eher ein Demokratieproblem?)

Man kann die Planwirtschaft auch eher als eine (nie befriedigende) Antwort auf Mangel auffassen, als als dessen Ursachen. Denn auch die westlichen Gesellschaften kennen das: Die Kriegswirtschaften der USA und Englands waren sicherlich auch durch den eintretenden empfindlichen Mangel an Verteidigungs- und Versorgungsgütern geboren und stellten ihn nicht ab, sondern linderten ihn lediglich, man wird sie aber kaum anders als darin erfolgreich beschreiben können.

18.03.2025 um 16:04

dubler

Zu Stolterfoht: Ich glaube schon, dass für ihn Konzepte, wie innere Notwendigkeit, Stimmigkeit, Ausgewogenheit etc. beim Schreiben keine oder eine negative Rolle spielen, weil es ihm um das Niegesehene, Verrückte und Überraschende geht.

Insofern kann man sich vielleicht auch zutrauen, in Stolterfoht-Texten hier und da Vertauschungen vorzunehmen, sodass die dabei entstehenden Gebilde auch einem/r versierteren Stolterfoht-LeserIn befriedigend erscheinen. Von dort zum Bild des Setzkastens, scheint es mir aber ein weiter Weg. Die beschriebene Übung würde sicherlich ein Einschwingen auf Stolterfohtsche Sprechweisen voraussetzen, an den Nahtstellen filigrane Anpassungen vornehmen müssen usw. wäre also insgesamt selbst wieder eine kreative Leistung, die erbracht werden müsste. Das Bild vom Setzkasten hingegen legt ja eher nahe, dass man Teile von ungefähr gleicher Größe fast zwanglos austauschen könnte?

18.03.2025 um 16:07

fabianstephangeorg

Das Setzkastenbild stellt natürlich auf die äussere Form ab, d.h. die rechteckigen und gleichbleibenden Strophen innerhalb einer Gruppe von neun Gedichten. Das vorausgesetzt (und vielleicht auch etwas Heissenbüttel im Hinterkopf), lässt sich das Erscheinungsbild zu einem Schema abstrahieren. Das betrifft aber, wie gesagt, nur die äussere Form, die ich auch als Architektur im Gegensatz zur Innenarchitektur zu fassen versucht habe. Oder auch mit der Entgegensetzung von Form und Struktur. Während für die Form der Setzkasten meines Erachtens druchaus stimmig ist, wäre sicherlich genauer zu eruieren, inwiefern er auch für die Struktur taugt bzw. in was für einem Verhältnis diese dann zueinander stehen.

19.03.2025 um 13:26

fabianstephangeorg

Ich gebe dir auf jeden Fall recht, dass zwischen den theoretischen Extrempositionen des Freien Markts und der Planwirtschaft einerseits und ihren praktischen Ausformungen sehr viel Raum für mehr Präzision, d.h. vor allem für die Analyse konkreter Spannungen zwischen theoretischer Position und praktischen Umsetzungsmöglichkeiten, bestünde. Das Schöne wir am Ende des Tages auch sein, dass wir die Dinge drehen und wenden können, wie wir wollen, und Ursache und Wirkung doch nicht unterschieden kriegen.

Und sicher ist au der gute, alte Aristoteles korrekt: die Mitte zwischen Regulierung und Freiheit macht’s aus. Der Erfolg der skandinavischen Staaten etwa könnte aber durchaus auch mit ihrer spezifischen Grösse zusammenhängen. Das gilt zum Beispiel auch für die Schweiz, die mit ihrer weltpolitischen Verantwortungslosigkeit aufgrund ihrer Irrelevanz (qua Kleinstaat) und einem gleichzeitig überschaubaren Territorium, das verwaltet werden muss, sehr gut fährt. Auf Deutschland lässt sich das alles nicht übertragen.

Das Wirtschaftswunder wiederum hatte die massiven Zerstörung des Zweiten Weltkriegs zur Voraussetzung. Es gab eben etwas aufzubauen. Die wiederhergestellte Infrastruktur lieferte auch insofern unmittelbar Rendite, als der Lebensstandard der Menschen dramatisch stieg. Gleichzeitig war Deutschland schon vor dem Krieg ein hochindustrialisiertes Land. Die ausgebildeten Fachkräfte, die für den raschen Wiederaufbau nötig waren, gab es also schon.

Der Gegensatz zwischen den USA und der Sowjetunion wiederum ist meines Erachtens auch wesentlich geprägt von den sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, die durch den Zweiten Weltkrieg noch akzentuiert wurden. Die jeweiligen Atomprogramme spiegeln das deutlich. Während die Sowjetunion vor allem aufgrund von erfolgreicher Spionage in der Lage war, eine Bombe zu bauen, unterhielten die USA bereits während des Zweiten Weltkriegs drei riesige Forschungsprojekte mit den entsprechenden Industrieanlagen gleichzeitig, um die Bombe zu bauen. Die Sowjetunion war derweil damit beschäftigt, Fabriken aus dem Westen hinter den Ural zu transportieren, damit sie nicht zerstört würden. Die Sowjetunion hatte nie die ruhige Entwicklung, von der die USA profitieren konnte. Bis heute rund 150 Jahre zerstörungsfreie Entwicklung (ähnlich wie in der Schweiz). Das spielt am Ende auf so vielen Ebenen eine wesentliche Rolle. Angefangen beim immateriellen Wohlstand wie der psychischen Verfasstheit und aufgehört beim materiellen Wohlstand wie akkumuliertem Kapital.

Was nun die Klaustrophobie betrifft, so bin ich durchaus der Ansicht, dass der gegenwärtige Zustand (etwa im Gegensatz zum zerstörten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, als fast jede Form des Handelns zu einer Verbesserung der Lebenslage führen musste) geprägt ist von geringer Risikobereitschaft. Einerseits gibt es starke Kapitalinteressen, die vornehmlich auf (den Schnellen) Gewinn aus sind, andererseits herrscht in Bezug auf die Wirtschaftspolitik fast zwangsläufig Planlosigkeit (wer versteht dieses System schon?). Die Angst, durch falsche Entscheidungen viel Wohlstand und vor allem wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit einzubüssen, erstickt jedes Handeln im Keim. Während etwa allen klar ist, dass die Bürokratie, so wie sie ist, nicht weitergehen kann, haben alternative Ideen wie das bedingungslose Grundeinkommen fast gar keine Zustimmung. In der Schweiz konnte sogar darüber abgestimmt werden mit dem Resultat, dass sich lediglich 22% dafür ausgesprochen haben. 

19.03.2025 um 13:28

fabianstephangeorg

Das ist ein guter Punkt. Natürlich steht die fünfzeilerei der Bedeutung noch recht nahe. Das zeigt sich im Gegensatz zu den Gedichten Stolterfohts etwa daran, dass sie häufig durchaus sentenzenhaft erscheinen. Insofern trifft auch auf die Banderole zu, was du sagst. Ersetzungen wären im besagten Sinn leicht vorzunehmen. Bezogen auf die konkrete Arbeit allerdings ist die Erfahrung schon, dass die Blöcke in „tausendundein / fünfzeiler“ wirklich im Sinn eines Setzkastens funktionieren. Und da schiele ich auch wenig darauf, wie sich die Aggregation auf die Bedeutung des einzelnen fünfzeilers auswirkt. Die Banderole herzustellen dagegen war eine Friemelei.

Dass die Verwechslung wiederum so früht (also bereits im Vorwort) einsetzte, nehme ich gerne auf. Wer wäre ich denn, hier nicht die Fahne der Hybris zu schwenken und mit einer Neuauflage zu liebäugeln?

Dass du dich wiederum umarmt fühlst, freut mich. Damit will ich natürlich keinerlei Versuch unternommen haben, dich bezüglich deines kritischen Urteils zu bestechen. Gott, wer auch immer das sein soll, bewahre! Ich mochte – und daher wohl der Sportsgeist aus anderem Kontext – die australische Haltung zu ihrer rabiaten Form des Footballs. In den unteren Ligen wurde ordentlich draufgehauen, wie der Sport das vorsieht, um nach dem Spiel gemeinsam mit einer Flasche Bier in der Hand im Mittelkreis zu palavern. Das hochsymbolische Bild mit dem Mittelkreis ist natürlich etwas überzogen, denn, obwohl das wohl ein oder zweimal so vorgekommen ist, war das nicht die Regel. Das gemeinsame Biertrinken hingegen schon.

Das führt vielleicht direkt zum Problem mit dem Gras. Natürlich äussert sich Stolterfoht auch argumentativ oder zumindest erzählerisch zu seiner Dichterei (etwa in besagter Münchner Rede). Aber ob es nun stimmt oder nicht, sitzt er dennoch diesem Taugenichtsklischee auf. Der Dichter liegt im Gras und lässt sich von Luft und Liebe inspirieren. Zumindest in der Jugend, denn darauf bezieht sich diese Passage bei Stolterfoht, muss das so gewesen sein. Unmittelbar danach folgte der Gang in die Kneipe und die Befeuerung der Euphorie mittels psychoaktiver Substanz: Bier. Das sind Narrative, die in Bezug auf Lyrik so durch die Welt geistern. Man kann sie einfach so erzählen à la Stolterfoht. Man kann sie aufladen à la Lerner. Aber dass sie da sind, ist eine ökonomische Entscheidung. Im endlichen Buch des Lebens stehlen sie anderen Narrativen den Platz. Aber da ist in Sachen Care-Diskurs beispielsweise auch schon einiges in Gang gekommen. Die heroischen Gestalten des inspirierten Genies oder des fleissigen Romanciers jedenfalls haben mehrheitlich ausgedient. Die Frage ist nur, ob es ein Kunst- und Kulturschaffen jenseits solcher Heroismen gibt. Wer jedenfalls mit dem Anspruch antritt, andere Leute sollten die eigenen Ergüsse lesen, droht meines Erachtens jederzeit Autor:innenhelden hervorzubringen, mögen nun die Bücher auch voll mit Antiheld:innen sein. Der Kulturbetrieb an sich ist nach wie vor so eingerichtet, wenn er einen Zirkus aus Preisverleihungen veranstaltet. Aber ich finde da keinen Ausweg… 

Das Beispiel mit den Gästen ist sehr treffen (insbesondere angesichts der anarchischen Abendrunde zu Lerner im Essay) und ich verstehe nun besser, worauf du hinauswillst. Da liegt ein Hund begraben, insofern ich – leider Gottes? – auch nicht frei vom Moralisieren bin. Über das Verhältnis der Textoberfläche mit ihrer Ausweglosikgeit und unterschwelligen Forderungen nach moralischem Verhalten müsste ich – insbesondere in Bezug auf den Gehalt der aufgestellten moralischen Forderungen – noch eingehener nachdenken. Bezüglich einer Dokumentation des Denkens im traditionellen Sinn des Essays glaube ich aber schon, aufgezeigt zu haben, wie eingehenderes Nachdenken über eine Sache eben gerade dazu führt, sich seiner Sache nicht mehr sicher zu sein. Das Problem von Intention und Wirkung, das ich in unseren Gesprächen auch immer wieder aufgebracht habe, scheint mir da grundlegend. Und dann ist, was du ansprichst, vielleicht eine Herausforderung angesichts jeder Moral. Wer eine Haltung haben will, also nicht rückgratlos durch die Welt schwadroniert, wird um diese Spannung nicht herumkommen. Egal, wie avanciert mittlerweile Haltung auch in Bezug zu Selbstreflexion und einer beständigen Selbstinfragestellung gesetzt wird. Würdest du sagen, dass das Aufwerfen dieses Problems und Lösungen dafür den Leser:innen zu überlassen, redlich ist? Oder würdest du eher sagen, da werden strategisch Dinge unterschlagen bis hin zur Heuchelei?

19.03.2025 um 14:20

dubler

Ja, völlig zugestanden, dass solche Klischees, wie das des Dichters, der sein Leben genießt, während ihm das Werk zufließt, in Umlauf sind. Völlig zugestanden auch, dass Dichter sie selbst pflegen und befeuern aus, ich vermute das auch, ökonomischen Gründen. Bei Stolterfoht mag der Grund eher sein, dem Ruf der Schwierigkeit zu entgehen, weil heute ja Dichtung immer „leicht“ sein soll. (Metz hat in seiner statistischen Arbeit über Rezensionen herausgearbeitet, dass dies eines der wichtigsten Komplimente für Dichtung ist.) Wer voraussetzungsreich schreibt, will das vielleicht nicht immer an die große Glocke hängen.

Ich glaube aber eben nicht, dass das wieder-in-Umlauf bringen von solchen Klischees einem irgendwie dabei hilft Haltung zu gewinnen. Es wird doch allenfalls zu vorschnellen Meinungen führen?

Es ist ein Problem der vorschnellen plausiblen Übergänge. (Plausibel werden sie eben z.B. durch Klischees) Es gibt Dichter, die sich poetologisch äußern und solche, die das lassen. Gut. Nun kann man natürlich den Unterschied zwischen instrumenteller Vernunft und anderer, der in der Philosophie ventiliert wird, darauf beziehen oder nicht. (Vielleicht lieber nicht, denn jeder Dichter argumentiert ja manchmal über Dichtung und sei es nur beim Bier. Es ist also wohl nicht richtig, hier eine scharfe Grenze zu sehen, sie ist umso schärfer, je abstrakter und weniger konkret man denkt.) Dann kann man natürlich das Klischee sehen vom Dichter der im Gras liegt, und wenn man sich nicht vergegenwärtigt, wer wie gehandelt hat, kann das einem klassisch anmuten … Je mehr Unterschiede man andockt, desto falscher wird es. Man kann Meinungen damit zwar plausibilisieren, aber richtiger werden sie durch solches verclustern von verschiedenen Dingen aufgrund oberflächlicher Ähnlichkeiten wohl kaum. Die Haltungen, die man damit gewinnt, sind im schlimmsten Fall Vorurteile. Ein Zweites, was man gewinnen mag: Alles sieht bedeutsamer aus, als es ist. Deswegen ist diese Strategie auch so beliebt bei Fernsehphilosophen von Sloterdijk bis Precht. Sie kommen der Neigung entgegen, dass sich ihr Publikum zwar durchaus für die großen Fragen interessiert, aber nicht die erforderliche Denkmühe für die sachgemäß differenzierten Antworten geben will. Ich wollte Dich nie als Moralisten zeichnen. (Denn das wird schnell als Vorwurf missdeutet, obwohl eine Haltung nach ethischen Maßgaben ja oft etwas sehr positives ist, das heißt, selbst, wenn ich jemanden für einen Moralisten halte, würde ich das vielleicht nur dann zum Thema machen, wenn seine moralische Integrität in Frage gestellt wird, vorher nicht.) Diese moralische Grundierung betrachte ich also, wo sie nicht einfach unterläuft, eher als einen rhetorischen Trick, erstens die Bedeutsamkeit des eigenen Themas zu unterstreichen und zweitens, dem Publikum bestimmte Entscheidungen unterschwellig nahezulegen. Wenn zum Beispiel, die Klassischen ( echten?) Dichter nicht analytisch vorgehen, sollte man dann nicht Analysen misstrauen? Usw.

21.03.2025 um 11:53

dubler

(Leider kann man Kommentare von Kommentaren nicht mehr am richtigen Platz absetzen) Wenn man es nur rein äußerlich fasst, ist das Setzkastenbild merkwürdig, weil ein Stolterfoht-Text der geschilderten Art erstens ein sehr anderes Rechteck ergibt (nämlich viel länger) und zweitens zwar offenbar horizontale Teilungen vorhanden sind, aber keine nennbaren vertikalen, wie im Setzkasten. Ich dachte: Dir MUSS etwas mehr vorgeschwebt haben, damit das Bild Sinn ergibt, sonst hättest Du es besser einfach Kasten oder vielleicht Regal genannt, und dieses Mehr wollte ich thematisiert haben.

21.03.2025 um 11:57

fabianstephangeorg

Naja, ich glaube tatsächlich, dass der Perspektivwechsel zwischen dem einzelnen Gedicht und der „äusserlichen“ Gesamtheit einer Herausforderung ist. Zugeben muss ich, dass ich mit dem Nachdenken natürlich noch nicht so weit bin, eine hieb- und stichfeste Theorie präsentieren zu können. Dass es in Bezug auf Stolterfohts fachsprachen jedoch eine hierarchische Theorie unterschiedlicher Ebenen braucht, wobei sich Ebenen auch widersprechen können, scheint mir evident. Wie diese Theorie genau auszusehen hätte bzw. wie das Verhältnis einzelner Ebenen zueinander zu bestimmen wäre, ist natürlich offen. Leider fand genau das, und ich hätte es als den Kern von meiner ganzen Nachdenkerei über Egger und Stolterfoht (wobei nicht über Rinck) gehalten, keinen Platz in der Dichtung, weil meine Lektüre eines namhaften evolutionstheoretischen Werks, aus dem ich diesen ganzen Kram habe, vorschnell von der Obrigkeit unterbrochen wurde. Ich habe diese Lektüre nach meine Zeit an der Uni nachgeholt bzw. vervollständigt und einen Toros eines wissenschaftlichen Artikels geschrieben, der zu lang für herkömmliche Publikatonsorgane ist und ohnehin keinen Ort mehr finden wird, seit ich keine Uni-Anbindung mehr habe. Ob nun Stolterfohts Anordnung der fachsprachen als Setzkasten qualifizieren könnte oder nicht, hängt natürlich von den konkreten Vorstellungen eines Setzkasten einerseits ab und andererseits vom Problem, dass sich das geschichtete Buch zuerst zu einem zweidimensionalen Nebeneinander fügen muss. 

21.03.2025 um 18:53

2 Comments on “Schwitterdebatte

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