Das wahre Wesen Japans

Heute zeigt der Kalender gleich mehrere runde Gedenktage. Heute vor 750 Jahren, 1275, starb der Minnesänger Ulrich von Liechtenstein, und noch 75 Jahre früher, heute vor 825 Jahren, 1200, wurde Dōgen geboren, der ein japanischer Zen-Meister und Dichter wurde. Hinzu kommen noch zwei Dichter aus verschiedenen Weltgegenden, die am selben Tag heute vor 300 Jahren gestorben sind. Johann Christoph(er) Jauch, deutscher Theologe und Dichter, der wohl wichtigste Textdichter Johann Sebastian Bachs (der Name Jauch trügt nicht, von einem seiner Brüder stammt der Fernsehhost Günter Jauch ab), und Sulchan-Saba Orbeliani, georgischer Mönch, Politiker und Dichter. Ich entscheide mich für den ältesten dieser vier Dichter, Dōgen.

Der japanische Autor Yasunari Kawabata stellte eins seiner Gedichte zusammen mit einigen anderen an den Anfang seiner Nobelpreisrede im Jahr 1968 in Stockholm. Daraus diese Ausschnitte. Am Schluss eine andere Übersetzung des ersten Gedichts mit dem Original.

„Im Frühling Kirschblüten, im Sommer der Kuckuck.
Im Herbst der Mond und im Winter der Schnee, klar, kalt.“

„Der Wintermond kommt aus den Wolken, um mir Gesellschaft zu leisten.
Der Wind ist durchdringend, der Schnee ist kalt.“

Das erste dieser Gedichte stammt vom Priester Dogen (1200-1253) und trägt den Titel „Angeborener Geist“. Das zweite ist vom Priester Myoe (1173-1232). Wenn ich nach Beispielen für Kalligraphie gefragt werde, wähle ich oft diese Gedichte.

Das zweite Gedicht enthält eine ungewöhnlich detaillierte Beschreibung seiner Ursprünge, die eine Erklärung seiner eigentlichen Bedeutung darstellt: „In der Nacht des zwölften Tages des zwölften Monats des Jahres 1224 war der Mond hinter Wolken. Ich saß in der Kakyu-Halle in Zen-Meditation. Als die Stunde der Mitternachtswache kam, beendete ich die Meditation und stieg von der Halle auf dem Gipfel in die unteren Viertel hinab, und als ich das tat, kam der Mond aus den Wolken und ließ den Schnee glühen. Der Mond war mein Begleiter, und nicht einmal das Wolfsgeheul im Tal machte mir Angst. Als ich bald darauf wieder aus den unteren Vierteln herauskam, war der Mond wieder hinter Wolken. Als die Glocke die Nachtwache signalisierte, machte ich mich noch einmal auf den Weg zum Gipfel, und der Mond sah mich auf dem Weg. Ich betrat die Meditationshalle, und der Mond, der die Wolken jagte, war im Begriff, hinter dem Gipfel dahinter zu versinken, und es schien mir, als würde er mir heimlich Gesellschaft leisten.“

(…) Hier ist die Szene für ein weiteres Gedicht, nachdem Myoe den Rest der Nacht in der Meditationshalle verbracht hatte oder vielleicht vor Tagesanbruch noch einmal dorthin gegangen war:

„Als ich meine Augen von meinen Meditationen öffnete, sah ich den Mond in der Morgendämmerung das Fenster erhellen. An einem dunklen Ort fühlte ich mich, als ob mein eigenes Herz in einem Licht erglühte, das das des Mondes zu sein schien:

‚Mein Herz leuchtet, eine reine Lichtfläche;
Und ohne Zweifel wird der Mond das Licht für sein eigenes halten.‘“

Wegen einer so spontanen und unschuldigen Aneinanderreihung bloßer Ausrufe wie der folgenden wurde Myoe der Dichter des Mondes genannt:

„Hell, hell und hell, hell, hell und hell, hell.
Hell und hell, hell und hell, hell, heller Mond.“

(…) Man kann, wenn man will, in Dogens Gedicht die Schönheit der vier Jahreszeiten nur als eine konventionelle, gewöhnliche, mittelmäßige Aneinanderreihung repräsentativer Bilder der vier Jahreszeiten in einer höchst ungeschickten Form sehen. Man kann es als ein Gedicht sehen, das eigentlich gar kein Gedicht ist. Und doch ist das Sterbegedicht des Priesters Ryokan (1758-1831) sehr ähnlich:

„Was soll mein Vermächtnis sein? Die Blüten des Frühlings,
Der Kuckuck in den Hügeln, die Blätter des Herbstes.“

In diesem Gedicht, wie auch in dem von Dogen, werden die alltäglichsten Figuren und Worte ohne Zögern aneinandergereiht – – – nein, eher mit besonderer Wirkung – – – und so vermitteln sie das wahre Wesen Japans.

Quelle: https://www.nobelprize.org/prizes/literature/1968/kawabata/lecture/

Im Frühling Kirschblüten 
im Sommer der Ruf des Kuckucks
im Herbst der Vollmond
im Winter kalter Glanz des Schnees:
erquickende Reinheit!
Haru wa hana / natsu hototogisu / aki wa tsuki / 
fuyu yuki saete / suzushikarikeri

Vorspann: Honrai menmoku – ›ursprüngliches Gesicht, ursprünglicher Anblick‹.

Gehört zu einer Reihe von Waka, die im Auftrag des Machthabers Hojo Tokiyori, entstand, als Dōgen 1247 in der Stellung eines geistlichen Präzeptors in Kamakura weilte. Der Vorspann deutet an, dass die klassischen Jahreszeiten-Motive hier als Metaphern auf etwas über die Erscheinungen Hinausgehendes, Wesenhaftes im Sinne des Zen-Buddhismus hinweisen sollen. 

Aus: Gäbe es keine Kirschblüten… Tanka aus 1300 Jahren. Japanisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Yukitsuna Sasaki, Eduard Klopfenstein und Masami Ono-Feller. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2009, S. 94f

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