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Ljubow (Ljuba) Jakymtschuk
Wörter an der Zungenspitze einer Mutter
sind immer am süßesten und am bittersten
sie lassen sich nicht von Sprache zu Sprache direkt übertragen
sie bedürfen Erklärungen und Anmerkungen.
jedes mütterliche »Bist du nicht hungrig?«
bedeutet »Wie geht es dir?«
manchmal widerspreche ich:
»kau es vor, ja, leg es mir in den Mund, Mama,
schau nach, ob ich schon geschluckt habe!
ist das deine besondere Form von Gewalt?«
»wenn du einmal selbst Kinder hast,
wirst du das verstehen«, antwortet sie.
da will ich sagen, mir wird's nie passieren
ich will das Telefon hinschmeißen und auf beleidigt tun
aber die Muttersprache wird vererbt
und schon spreche ich sie auch
zumindest zu mir selbst
wenn ich den Weihnachtsbaum schmücke
und zwischen den Kugeln Bonbons an die Zweige hänge
Essensreste auf dem Teller
kann ich nicht in den Müll werfen
also schlucke ich sie mit ganzer Kraft hinunter
ich erinnere mich, wie meine Oma uns Kinder bat
den Teller leer zu essen
und so aßen wir für Mama und Papa
für Oma und Opa
für all die Verwandten, die wir
nur aus dem Fotoalbum kannten
bis unsere Teller endgültig leer wurden
immer noch essen wir für die Verwandten
die vor einem Jahrhundert starben
vor einem halben Jahrhundert
und sogar noch letztes Jahr
an Hunger litten
jetzt komme auch ich nach Hause
und frage mein Kind:
»bist du nicht hungrig, Kleine?«
»hast du heute schon gegessen?«
und egal, wie die Antwort ausfällt
überrede ich sie, wenigstens etwas zu essen
um den Beweis ihrer Sättigung zu sehen
in diesem hausgemachten Essen
steckt unsere tausendjährige Geschichte:
aus der Gefangenschaft entlassene Menschen
die beim Anblick eines Apfels weinen
Millionen Verhungerte
mit aufgeblähten Bäuchen
in diesen Gesprächen über das Essen
sehe ich ein Schlachtfeld und jene,
die auf diesem Schlachtfeld gefallen sind
mir ferne und doch so nahe Menschen.
durch das Essen wird die Geschichte von Eltern an Kinder weitergegeben
wir kauen die Geschichte mit Mündern der Kinder
wir kauen sie leise
damit die feindlichen Geheimdienste es nicht hören
aber ich übersetze sie dir:
als man für Dokumente in ukrainischer Sprache erschossen wurde, 1918, 2022,
bekamen wir Dokumente auf Russisch
als man für die Pflege des Ukrainischen des Terrorismus beschuldigt wurde, 1930er- bis 1950er-Jahre,
ersetzten wir es durch die sowjetische Sprache
als man unsere Speisen nationalistische Propaganda nannte, in den 1960er- und 1970er-Jahren,
aßen wir das, was auch alle anderen aßen
entschuldige also, dass du bis heute
diese Überlebensgeschichte schluckst
kein Essen zum Vergnügen, nur um satt zu werden
um derjenige zu sein, was man isst
um so zu sein, wie alle anderen sind
um jemand zu sein, der nicht verhungert
nicht ins Konzentrationslager kommt
nicht in einem feuchten Keller erschossen wird
doch warte, nein, es gab eine Form des Protests:
unsere Großmütter haben zu Ostern
Paska-Brote gebacken
und nannten sie Kuchen
um die Ohren der Spitzel zu täuschen
als Kinder sammelten wir buntes Schokoladenpapier
und Kaugummiverpackungen von »Love is«
als Beweis für den Genuss
am Verzehr von Süßkram
ich schreibe allmählich an unserem Lexikon des Essens
Wort für Wort, Speise für Speise
einige von ihnen handeln vom Tod
aber viele handeln vom Leben
wie jenes Walnussschnitzel
das meine Grußmutter machte
als sie sich in den Neunzigern
kein Fleisch leisten konnte
aber die Nussernte reich war
ich schreibe dieses Lexikon
und ich gebe es dir unbedingt zum Lesen
damit du das erste Kind auf der Welt sein kannst
das aufhört, für alle verstorbenen Verwandten zu essen
und nur noch für sich selbst essen kann
für die Trauer um die Gefallenen
um die Verhungerten
um Gefolterte oder Vergiftete
holen wir uns unsere Worte zurück
und wenn du erwachsen bist
rufe ich dich an und frage dich
egal, wie sehr ich etwas anderes sagen will
dann frage ich dich ganz einfach:
»Wie geht es dir, Liebes?«
Für O.S. und K.M.
Kyiv, 2023
Aus dem Ukrainischen von Stefaniya Ptashnyk, aus: Delfi. Magazin für neue Literatur. #03, Herbst 2024, S. 17-20
Ljuba Jakymtschuk, geboren in Perwomaisk, Oblast Luhansk, Ukraine, ist eine in Kyjiw lebende Dichterin. Ihre Gedichte wurden in über 20 Sprachen übersetzt, ihr Buch »Aprikosen aus dem Donbass« stand auf der Shortlist des Mallarmé-Preises in Frankreich und wurde auf Französisch vertont von Catherine Deneuve. Im Jahr 2022 performte sie ihre Gedichte bei den Grammy Awards.
Stefaniya Ptashnyk, geboren in Lwiw, Ukraine, ist Linguistin, Buchautorin und Übersetzerin für Ukrainisch und Deutsch. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und lehrt deutsche Sprachwissenschaft an den Universitäten Heidelberg und Wien.
Hinweis: Das Gedicht hat keinen Titel. Der Titel dieses Beitrags ist von mir gewählt und technisch bedingt – Beiträge brauchen eine Überschrift, um aufrufbar zu sein.
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