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Franz Hodjak
(* 27. September 1944 in Hermannstadt, Rumänien, lebt seit 1992 in Deutschland)
grabrede
unsere generation? eins immerhin
ist sicher: man kann sich große worte ersparen
auch lorbeerkränze
oder salut
die begeisterung, liebe anwesenden, war groß
es war so, daß alles anders aussah
die zeit hatte eine andre geschwindigkeit
Brecht marschierte mit qualmender zigarre voran
alles was man tat oder unterließ, hatte ein präzises ziel
selbst der haarschnitt war politisch
nichts erweckte den vertrauten eindruck
daß nichts zu verändern wär
man trank sich zu, nüchtern und engagiert
der postbote, er brachte welt in die köpfe
die gespräche wurden immer länger
doch immer wenn die zukunft greifbar nah schien
war der arm zu kurz
man bog etwas betreten um die ecke
die gegenstände sahen plötzlich aus
als wären es geknickte schwingen
die fragen häuften sich
das telefon von dr. Marx war stets besetzt
man saß nächtelang vor dem radio
man begann sich zu erinnern
einigen halfen kleine kellnerinnen
über die enttäuschungen hinweg
andere waren immer und überall dabei
und das waren auch unsre liebsten clowns
andere standen vor den kinos
andere vor dem paßamt
andere hatten nichts dagegen
andere stellten sich um auf pfeife
und was zu tun war
gründlich
wurde es zerredet
Aus: Franz Hodjak: Sehnsucht nach Feigenschnaps. Ausgewählte Gedichte. Hrsg. Wulf Kirsten. Berlin u. Weimar: Aufbau, 1988, S. 105f. Auch in: Franz Hodjak: Siebenbürgische Sprechübung. Gedichte. Mit einem Nachwort von Werner Söllner. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1990, S. 100f.
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