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Franz Fühmann
(* 15. Januar 1922 in Rokytnice nad Jizerou, Tschechoslowakei; † 8. Juli 1984, heute vor 40 Jahren, in Ost-Berlin)
Zum ersten Mal im Theater
O aller Verzauberungen
erste große Gewalt:
Im Mäander der Masken und Mythen
das Kind, zehn Jahre alt,
inmitten des schönen Spektakels
ein Schaum auf der Woge, die rauscht;
o Worte, die klagten und stiegen,
wie habe ich ihnen gelauscht!
Atemlos, mit hämmerndem Herzen
bei Bajazzo und bei Peer Gynt,
Mutter Aase verstorben vorm Schloßtor,
ach, Nächte weit weinte das Kind,
und der Wein, der Wein war verschüttet,
und wie schauerte mich, daß er rann
aus Jagos weißen Händen,
da des Mohren Tod er ersann;
und mördrisch vor die Pförtnerloge
der edle Macbeth kam herein,
über ihm, im unsichtbaren Chore,
hörte man die Hexen schrein,
und Lear trat auf, der Narrvater
auf der Heide, sturmumsaust –
so war dieses dunkle Theater
von Tränen und Toten behaust.
Ach die Tode, die mich trafen,
die Tränen, die ich trank,
diese Verzauberungen,
darinnen ich versank,
und als die Tränke mir stiegen
gewaltig vors Gesicht:
Leertrinken oder versinken,
ein Drittes gibt es nicht!
Da wußt ich: Die Tränen und Tode
zu zeichnen, ist dir bestimmt,
bestimmt, an den Tag zu zerren,
was im Dunkel das Herz dir grimmt;
wenn auch dein Herz daran blute
und es süßer wäre, stumm zu ruhn,
hast du im Taumel der Tage
eine Pflicht zu tun:
In das Dunkel zu sehen,
wenn es den Nachbarn bedroht,
deine Worte zu setzen
wider Fron und Tod,
immer für die Gefährten
Bajazzo, Othello, Peer Gynt
hier auf dieser unserer Erden,
wo sie waren, wo wir sind.
Wunderbar und (leider) passend in unsere Zeit!
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