63. Unfassbar im Dazwischen

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Dem Fehlen beherrschender Schreibweisen geben die Herausgeber von Lied aus reinem Nichts zurecht nach und stellen in ihrer Bestands­aufnahme des vergangenen Jahrzehnts lieber die Vielfalt des lyrischen Sprechens aus. Mit ihrer kompro­misslos-quali­tativen Sammlung legen Michael Braun und Hans Thill nicht nur die kenntnisreichste Auslese der Nuller­jahre vor, sondern auch eine Evo­lutions­geschichte der Dichtung. Die Zielrichtung der Kapitel stellt eine Dramatik her, die den Lebenslauf einer Dichtung suggeriert: Wo im ersten Kapitel das Gedicht im Sinne eines sensorischen Apparates die Wahr­nehmung erst erlernt, so erkundet es in den nach­folgenden Kapiteln die Welt; es wird sozia­lisiert in der Politik und der Liebe, bevor es als poeto­logisches Gedicht über sich selbst nachdenkt, es schließ­lich mit sich selbst abrechnet und über den Tod meditiert, bevor es seinen ver­storbenen Ver­fassern in Form von Stelen noch einmal die Ehre erweist. Was die Heraus­geber mit dieser prozes­sualen Ent­wicklung schaffen, wirkt nicht nur erzählerisch, sondern wirkt, als hätten alle Dichter des ver­gan­genen Jahr­zehnts an einem einzigen, gemeinsamen Text geflochten, nämlich diesem einen Lied aus reinem Nichts.
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Das Gedicht des letzten Jahr­zehnts kennt keine eindeutig ort­bare Herkunft und kein Ziel. Es tänzelt an einem dritten Ort und oszil­liert unfassbar im Da­zwischen, was selbst für den Dichter spannend ist: heraus­zutüfteln, wo einen das Gedicht eigentlich hinführt, wo es hin will mit einem. In seiner Unent­schlossen­heit ist es jedoch stets begleitet von einem reflexi­ven Moment. Nichts wird naiv oder unüber­legt aus der Tradition über­nommen; und die Gegen­warts­dichtung speist sich substan­tiell aus der Tradition. Ob aus kritischen oder ironi­schen Per­spek­tiven, ob als technisch ange­schrägtes Natur­gedicht oder als Hölderlin-Fragmen­tation, auch auf die Lyrik­geschich­te blickt das derzeitige Gedicht mit seinen tausenderlei Augen. / Walter Fabian Schmidt, Poetenladen

Michael Braun, Hans Thill (Hrsg.): Lied aus reinem Nichts. Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts. Heidelberg, Das Wunderhorn 2010, 248 S., 26, 80 Euro

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