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Dem Fehlen beherrschender Schreibweisen geben die Herausgeber von Lied aus reinem Nichts zurecht nach und stellen in ihrer Bestandsaufnahme des vergangenen Jahrzehnts lieber die Vielfalt des lyrischen Sprechens aus. Mit ihrer kompromisslos-qualitativen Sammlung legen Michael Braun und Hans Thill nicht nur die kenntnisreichste Auslese der Nullerjahre vor, sondern auch eine Evolutionsgeschichte der Dichtung. Die Zielrichtung der Kapitel stellt eine Dramatik her, die den Lebenslauf einer Dichtung suggeriert: Wo im ersten Kapitel das Gedicht im Sinne eines sensorischen Apparates die Wahrnehmung erst erlernt, so erkundet es in den nachfolgenden Kapiteln die Welt; es wird sozialisiert in der Politik und der Liebe, bevor es als poetologisches Gedicht über sich selbst nachdenkt, es schließlich mit sich selbst abrechnet und über den Tod meditiert, bevor es seinen verstorbenen Verfassern in Form von Stelen noch einmal die Ehre erweist. Was die Herausgeber mit dieser prozessualen Entwicklung schaffen, wirkt nicht nur erzählerisch, sondern wirkt, als hätten alle Dichter des vergangenen Jahrzehnts an einem einzigen, gemeinsamen Text geflochten, nämlich diesem einen Lied aus reinem Nichts.
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Das Gedicht des letzten Jahrzehnts kennt keine eindeutig ortbare Herkunft und kein Ziel. Es tänzelt an einem dritten Ort und oszilliert unfassbar im Dazwischen, was selbst für den Dichter spannend ist: herauszutüfteln, wo einen das Gedicht eigentlich hinführt, wo es hin will mit einem. In seiner Unentschlossenheit ist es jedoch stets begleitet von einem reflexiven Moment. Nichts wird naiv oder unüberlegt aus der Tradition übernommen; und die Gegenwartsdichtung speist sich substantiell aus der Tradition. Ob aus kritischen oder ironischen Perspektiven, ob als technisch angeschrägtes Naturgedicht oder als Hölderlin-Fragmentation, auch auf die Lyrikgeschichte blickt das derzeitige Gedicht mit seinen tausenderlei Augen. / Walter Fabian Schmidt, Poetenladen
Michael Braun, Hans Thill (Hrsg.): Lied aus reinem Nichts. Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts. Heidelberg, Das Wunderhorn 2010, 248 S., 26, 80 Euro
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