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Fortsetzungsessay von Theo Breuer
It’s running and re-running non-stop
Ein Tag unter vielen
An kommunalen Bauten
blühen die Geranien,
und jemand, der mich haßt,
zieht seinen Hut und grüßt –
Um sieben
schlägt es sieben, weiter nichts.
Es wird die Nacht
mich an die Lampe zwingen.
Rainer Brambach
Autoren, zu deren Büchern ich regelmäßig greife, die ich wieder und wieder lese, deren Werk – Lyrik und Prosa (Jürgen Beckers Journalsätze lese ich wie Gedichte: Etwas entdecken, auch wenn man weiß, es ist schon entdeckt) – mich auf den Wanderungen durch die Mark Letterland stets begleitet und von denen ich 2009 diese Gedichtbücher (zum ersten oder wiederholten Male) las:
Jürgen Becker · Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft (1988), Im Radio das Meer (2009)
Hans Bender · Der junge Soldat (2006), Ritus der Wiederkehr (2006), Wie es kommen wird (2009)
Gottfried Benn · Gedichte in der Fassung der Erstdrucke (2006)
Richard Berengarten · The Blue Butterfly (2006)
Horst Bingel · Den Schnee besteuern (2009)
Paulus Böhmer · Kaddish X–XXI (2007)
Rainer Brambach · Tagwerk (1959)
Bertolt Brecht · Liebesgedichte (2009)
Rolf Dieter Brinkmann · Westwärts 1 & 2 (2005)
Werner Bucher · Den Fröschen zuhören, den toten Vätern (2005), Du mit deinem leisen Lächeln (2007)
2009 – It’s running and re-running non-stop – kommt ein Autor hinzu, von dessen lebendigen Gedichten ich noch nichts vernommen hatte, obwohl sie, wie ich nun weiß, zur originellsten zeitgenössischen Lyrik Irlands zählen. Der Sound dieser Gedichte erobert Kopf und Herz im Sturm:
Paddy Bushe · To Ring in Silence. New and Selected Poems (2008)
Vergnügungen –
Die Kirschen sind reif
Vergnügungen
Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein
Bertolt Brecht
Mitte Juli grub ich, während die Autos wie von Sinnen vorüberbrausten, auf einer direkt an der B 258 gelegenen wilden Wiese lila blühenden Storchschnabel aus, um ihn im stillen Garten wieder einzupflanzen. Am nächsten Tag ging ich erneut die 700 oder 800 Meter dorthin, diesmal war der Schlangenknöterich an der Reihe, den ich hinterm Sistiger Kreisverkehr im Hang am Straßenrand entdeckte. Ende Juli grub ich im Wald das Gänsefingerkraut mit allen den Würzlein aus und pflanzt es wieder am stillen Ort unterm Kirschlorbeer. Der weiße Wiesenkerbel blühte wie von Sinnen hier und da und dort, welch herrliche Ergänzung zu den vielen, vielen Farben, die aus all den Beeten und Ecken strahlen. An einem jener sehr heißen Tage, in denen ich wie von Sinnen Feldsteine von den Äckern in den Garten schleppe, notiere ich im Tagebuch: Das heutige Gedicht im Lyrikkalender ist fürchterlich.
Dies ist allerdings die Ausnahme. An der Mehrzahl der Tage erlebe ich die Gedichte in Der deutsche Lyrikkalender. Jeder Tag ein Gedicht, von dem Hans Bender sagt: Man kann ihn wie eine Pflanze oder Blume ins Zimmer oder Büro stellen. Gedichte jedoch schweigen uns nicht an. Sie fordern uns auf, mit ihnen zu sprechen – über die Literatur und das Leben, glücklicherweise ganz anders.
Lieben Sie Gedichte? fragt der Verlag auf der Rückseite des Kalenders und antwortet umgehend selbst: Wir auch! – stillschweigend voraussetzend, daß Sie naturgemäß Gedichte schätzen und lieben. Denn welcher Mensch liebt nicht die Sprache der Lyrik, die ihn doch lebenslang in allen lustigen und allen unheilvollen Lebenslagen begleitet, die ihn ständig umgarnt und umgibt: die Sprache der Lieder und Songs, die Sprache der Vögel und Vierbeiner, die Alltagssprache der Stuben und Straßen, die Sprache der Küchengeräte und Autos, die Sprache der Sterne und Wolken, die eigene, die fremde Sprache des Scherzes, des Schmerzes (nicht zu vergessen die vielen Fachsprachen) – alle voll von schier unendlichen Alliterationen und phantastischen Metaphern, angereichert mit gekreuzten und gepaarten Reimen, lautmalenden, knirschenden Wörtern.
Mitten im Leben
denke ich an die Toten,
die ungezählten und die mit Namen.
Dann klopft der Alltag an,
und übern Zaun
ruft der Garten: Die Kirschen sind reif!
Günter Grass
Der deutsche Lyrikkalender 2010 am 26. Juni
Und so richtet sich die suggestive Frage Lieben Sie Gedichte? keineswegs bloß an den Insider, sondern im umfassenden Sinne an jedermann.
Shafiq Naz, Herausgeber und Verleger von Alhambra Publishing, entwirft den deutschen Lyrikkalender mit dem Motto Jeder Tag ein Gedicht für alle Menschen an allen Tagen. Folgerichtig ist die 2005 erstmals erschienene Anthologie konzipiert als Tischkalender mit Ringbindung und einer exemplarischen Mischung von 365 artistischen, bukolischen, chiffrierten, dadaistischen, eleganten, freimetrischen, gereimten, humorvollen, idiosynkratischen, jovialen, kanonisierten, lustigen, melancholischen, natürlichen, onomatopoetischen, pathetischen, quirligen, rauhen, sanften, schrägen, tobenden, unveröffentlichten, verspielten, wortreichen, zackigen Gedichten von 300 berühmten, bekannten, weniger bekannten, (längst) verstorbenen, mitten im Leben stehenden, blutjungen Autorinnen und Autoren aus dem gesamten deutschen Sprachraum von den Anfängen im Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart im 21. Jahrhundert – und das auf insgesamt 408 Seiten (plus Anhang).
Gedichte vermitteln, dafür sorgt deren ureigengestalterische Sprache, grundsätzlich gute Botschaften – auch wenn diese naturgemäß nicht bloß erfreulicher Art sein können. Vergessen wir also Fernseh- und Zeitungs-Nachrichten (TV news, the world’s small talk lese ich in einem Gedicht von Paddy Bushe) – wenigstens für ein paar Minuten am Abend und lesen stattdessen um 19 oder 20 Uhr das Gedicht im deutschen Lyrikkalender. Der Kalender bietet Tag für Tag eine neue Nachricht – mal nett, mal naßforsch, mal niedlich, mal nobel. Nachweislich und schwarz auf weiß.
2009 ist ein weiteres ertragreiches Jahr für die Lyrik nach 2000. Zum Glück wird die horizontale und vertikale Bandbreite deutschsprachiger Gedichte auch in diesem Jahr von fleißigen und kenntnisreichen Fachleuten dokumentiert und kommentiert. Für diese außerordentlich geglückten, offen ausgeschriebenen oder geschlossenen Gesellschaften gewidmeten Anthologien (eigene Erwartungen sind bei der Bewertung geglückt weit weniger wesentlich als die offenkundigen, in Vor- und Nachwort dargestellten Absichten der Herausgeber – siehe hierzu auch meine Ausführungen anläßlich der Vorstellung von Versnetze_zwei im Poetenladen), die ich brauche, um einen passablen Überblick zu behalten, ermöglichen mir rasante Rallyes in alle Richtungen Zeit und Raum:
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