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Dieser Prozess des Fortschreibens bzw. Umschreibens lässt sich in einer schönen zweisprachigen Ausgabe des Urs-Engeler-Verlags nachvollziehen, die überdies den späten Zyklus «Dunckler Enthusiasmo» enthält. Sie gewährt faszinierenden Einblick in die Werkstatt des Dialektdichters Pasolini – und in die des Nachdichters Christian Filips. Um es vorwegzunehmen: Filips ist der immens schwierigen Aufgabe, für das Friaulische einen deutschen Dialekt (aber welchen?) zu wählen, ausgewichen, indem er den Grossteil der Gedichte in ein «vokalgeleitetes Hochdeutsch» übersetzt hat, «das mitunter vielleicht an Hofmannsthal oder Trakl erinnert und an den hohen Ton des Decadentismo gemahnt», einen kleineren Teil aber «in die mystische Innigkeit eines späten Mittelhochdeutschs» bzw. «in das prophetische Deutsch der Bibelübersetzung Martin Luthers». Gewagt ist das allemal, schon weil dadurch die Einheitlichkeit des Pasolinischen Tones verloren geht. Zu fremdartig ist die mittelhochdeutsche Stilisierung, zu wenig verfremdet das Hochdeutsch. Vielleicht hätte es eines Pastiorschen Kunstdialekts bedurft, um dem Original gerecht zu werden. Filips‘ zwitterhafte Lösung bleibt ein Angebot der Vorläufigkeit; dennoch ergreift man es gern, zumal es durchaus Reize zu entfalten vermag.
Man mache sich nichts vor: Pasolinis «dunckler Enthusiasmo» liebt das Kryptisch-Hermetische, und dass er sich eines auch für Italienischsprachige fast unverständlichen Dialekts bedient, macht ihn noch dunkler. Doch folge man den liedhaften Intonationen, den «Kinderreimen», den Tanzrhythmen und quasi-liturgischen Aufzählungen, und manches hellt sich auf. Oder konturiert sich durch spätere Varianten. …
Im italo-friaulischen Zyklus «Dunckler Enthusiasmo» (1973–74) ist manches direkter angesprochen: Italiens faschistische Vergangenheit, «Konformismen», «falsches intellektuelles Gehabe», Resignation. Dass das Räsonnement nicht zum ideologischen Diskurs gerät, dafür sorgt die bewegliche lyrische Mischsprache, die Christian Filips – im Gedicht «Sinn des Beweinens» – folgendermassen wiedergegeben hat: «Han die trostes not? Not zu beweysen? / Was sagen sie das wieder sich vnd wieder? / Die wissen nit, wir wissen nit, die reychen, / die seyn die ersten, die sich frewn // amb wolstandt? Die Modelle des Fortschritts / waren Realität. Ist es vielleicht realistisch, / diese Realität anzunehmen? Ihre Probleme / zu unsern zu machen? (Grünanlage, Gesundheit, // Ausbildung, Altersvorsorge?) Wer hat uns / denn dieses Gemenge beschert? Wieso, // verdammt nochmal, zum Realisten werden / und beitragen zur Lösung dieser Probleme?»
An der schlechten Realität einer konsumorientierten Massengesellschaft war Pier Paolo Pasolini nicht interessiert. Er erträumte sich – kindheitsbesessen – eine bessere Welt für sich und für alle. Seine sensiblen friaulischen Gedichte sind Beweise seiner lebenslänglichen Utopie. / Ilma Rakusa, NZZ 24.11.
Zu Pasolinis Gedichten siehe auch: Schreibheft, Zeitschrift für Literatur, Nr. 73, 2009, 221 S.
Dunckler Enthusiasmo – Friulanische Gedichte Pier Paolo Pasolini. Übersetzt von Christian Filips. Urs Engeler Editor Basel / Weil am Rhein 2009, 322 S., 28 E
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