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Nach dem Erdbeben in Sichuan erkannte die kommunistische Führung in Peking, dass sie mit einer Glorifizierung ihrer Rettungsmaßnahmen den Nationalismus im Volk weiter steigern kann. Schon die ersten Einheiten der Volksbefreiungsarmee, die das Epizentrum in Fußmärschen erreichten, hatten Kameramänner dabei. Während ihre Kameraden unter großen Gefahren Leben retteten, sorgten die Kameraleute für das Filmmaterial, aus dem anschließend ein „Heldenepos“ nach dem anderen geschnitten wurde. Da wollten die örtlichen Schriftstellerverbände und auch Herr Wang nicht zurückstehen. Er veröffentlichte das folgende Gedicht:
Stimme aus der Tiefe der Ruinen
Ein unter den Trümmern des Erdbebens begrabenes Opfer, dennoch alles erfühlend, was über ihm nach dem Beben vor sich geht, meldet sich mit folgendem Gedicht tief gerührt zu Wort:
Naturkatastrophen sind unvermeidlich
Wie könnte ich da über meinen Tod klagen
Der Parteivorsitzende ruft, der Ministerpräsident auch
Die Partei bemuttert, das Vaterland liebt mich
Ihre Rufe, Ton um Ton, dringen zu mir durch den Schutt
1,3 Milliarden Menschen weinen gemeinsam
Obschon nur noch ein Geist
So bin ich doch glücklich
Silberne Adler und Streitwagen retten kleine Kälbchen
Links der Onkel Soldat, rechts die Tante Polizistin
Die große Liebe der Nation erfahren habend
Bin ich selbst als Toter voller Zufriedenheit
Hätte ich doch nur einen Fernsehbildschirm vor meinem Grab
Um die Olympiade anzusehen und mit in den Jubel einzustimmen
Dieses ursprünglich am 6. Juni 2008 in den Qilu Abendnachrichten erschienene Gedicht sprengte sogar die Grenzen dessen, was die an schwülstige Parteipropaganda gewöhnten Chinesen ertragen konnten. Der populäre Jugendschriftsteller Han Han höhnte über das Gedicht auf seinem Blog: „Welch ein Glück, dass ich nicht dem Schriftstellerverband beigetreten bin!“ Ein anderer Schriftsteller erklärte seinen Austritt aus der Sektion Shandong des Verbandes, weil er sich „schäme“, möglicherweise mit Wang Zhaoshan in Verbindung gebracht zu werden. Selbst die englischsprachige China Daily distanzierte sich von Wang und seinem Gedicht, das sie „schmalzig und fürchterlich“ nannte. / Süddeutsche Zeitung 12.10.
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