18. Aufregung in der russischen Lyrik

Jemand Kluges hat einmal gesagt: «Russland ist ein Land mit einer unvorhersagbaren Vergangenheit.» Das betrifft auch die russische Literatur. Insbesondere die Poesie. Spätestens seit Gorbatschews Perestroika sind nicht mehr etwa Jewgeni Jewtuschenko oder Andrei Wosnessenski, die in den sechziger Jahren vom ganzen Volk vergöttert und auch im Westen als Repräsentanten der dürftigen Freiheit des Chruschtschewschen «Tauwetters» bewundert wurden, die Hauptfiguren der Literatur jener Zeit.

Das Bild der russischen Poesie ist heute beherrscht von der Überfigur Joseph Brodskys (1940–1996). Der Mythos Brodsky ist kanonisiert und weltberühmt: Er war der Liebling der alten Anna Achmatowa, die ihn als Nachfolger legitimierte. Allerdings nicht in den Augen der sowjetischen Obrigkeit: Joseph Brodsky wurde wegen «Nichtstuerei» verhaftet. Aus seiner unglücklichen Liebe kreierte er die berühmtesten Liebesgedichte der Epoche. Seine Nobelpreisrede 1987 ist für die ganze Welt zum Plädoyer für die Poesie geworden.

Alles schön und gut, daran ist auch nichts Falsches. Aber heute zeigt die Vergangenheit wieder einmal aufs Neue ihre proteischen Eigenschaften, und zwar in einem Mass, das man für den deutschen Sprachraum etwa so veranschaulichen könnte: Man stelle sich vor, Schiller sei ziemlich schnell vergessen worden und der Geheimrat Goethe ziere allein die deutschen Boulevards. Und dann würde jemand unerwartet sagen: «Es gab doch noch Schiller! Macht bitte die Hälfte des Sockels frei!»

Im Petersburger Ivan-Limbach-Verlag ist unlängst eine zweibändige Werkausgabe eines Altersgenossen, kurzzeitigen Freundes und auch (wie unter Dichtern üblich) Rivalen von Brodsky erschienen: Leonid Aronson. Dieser war weder Dissident noch anerkannter Staatsdichter. Jahrzehntelang war Aronson für Petersburger ein Kultlyriker und für alle, die sich für die freie russische Poesie interessierten, ein Geheimtipp.  / Olga Martynova, NZZ 4.7.

Leonid Aronson „Innenfläche der Hand“, Erata Literaturverlag, Leipzig 2009, 19,95 Euro

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