Adonis´ Stimme

Um so aufschlussreicher war an diesem Abend, wie Adonis selbst im Kontrast hierzu sein Gedicht las. In seinen Vorlesungen am „Collège de France“ 1984 hat er an den Beginn der „Einführung in die arabische Poesie“ ein Kapitel über die vorislamischen Wurzeln der arabischen Poesie gesetzt. Darin ist das Ohr der Schlüssel zur Dichtkunst, die Rezitation, nicht das Buch, das ideale Medium ihrer Verbreitung. Das Zusammenspiel von Stimme, Wort, Körper und Geste ist bei Adonis der Jungbrunnen noch für die moderne, an Baudelaire, Rimbaud und Nietzsche geschulte arabische Poesie, für die er selbst steht.

Aus der Alltagsstimme seiner französischen Einleitungssätze ließ Adonis in seiner Rezitation rasch die hochstilisierte arabische Stimme herauswachsen, die wie ein zweites Organ die Kunst vom Leben abgrenzt wie der Rahmen das Bild. Dieter Grimm, der Gastgeber und Leiter des Wissenschaftskollegs, hatte zuvor gemeint, Adonis werde nicht lesen, sondern singen. Das traf aber nur die eine Seite dieser Stimme: ihre Lösung vom Buch. Wenn Adonis die Verse, die er spricht, mit den Händen umfasst, die Vokale dehnt und wie Saiten spannt, den Rachenlauten des Arabischen die Härte nimmt, dann hat er die Augen halb geschlossen und braucht das Buch nur wie bei Kleist die Marionette den Boden: um sich davon abzustoßen. / Lothar Müller, Süddeutsche 14.3.02

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