König der Instrumente

Ilija Trojanow

(Geboren 1965 in Sofia, aufgewachsen in Nairobi, lebt in Wien)

Die Sonnenuhr des Sawai Jai Singh II.
Jantar Mantar, Jaipur

Bei seiner Geburt
skizzierten die Astrologen des Hofes

eine Zukunft dem Zukünftigen.
Einfache Mittel sind genau.

Jai Singh, mit elf schon König,
wurde Astronom.
Mathematiker.
Er las Ptolemäus
er las Euklid
er las Isaac Newton
und Muhammed Ulug Beg.

Er beschloß, die Sonne zu messen
genauer als je zuvor.

Zwanzig Sekunden schritten die ersten Schatten aus,
das war Jai Singh nicht genau genug.
Er baute eine Stiege zu den Sternen,
die erst endete,
als seinem Reich der Marmor ausging.

Tagsüber schmolz die Sonne im Sekundentakt dahin,
nachts, im Schneidersitz, auf der letzten Stufe,
richtete er sein wachendes Auge auf
auf die vielen zurückfallenden Lichter.

Diese Uhr geht nach, um elf Minuten,
sagt die Frau unter ihrer breiten Krempe
und streckt Jai Singh
ihren blassen Arm hin.
Madame, die Sonne irrt nie.
Diese Zeit stimmt für den Fleck,
auf dem wir beide stehen.
Die Uhr, die sie tragen,
hierhin und dort,
stimmt überall,
doch nicht hier.

Aus dem Englischen von Susann Urban, aus: Ilija Trojanow, verwurzelt in Stein. Gedichte. Heidelberg: Wunderhorn, 2017

Modell des Vrihat Samrat Yantra („Großer König der Instrumente“), der größten Sonnenuhr der Welt, erbaut von Jaj Singh zwischen 1728 und 1738, mit der man die Ortszeit auf 2 Sekunden genau berechnen kann. Das Beobachtungsdeck erstreckt sich bis 27 Meter Höhe. Von dort pflegte man den Beginn von Verfinsterungen und auch das Herannahen von Monsunstürmen zu beobachten. Die Dame in dem Gedicht, offenbar eine Touristin, kennt den Unterschied zwischen Ortszeit und Standardzeit nicht.

in meinem weißen zimmer war ich allein

Oskar Kokoschka

(* 1. März 1886 in Pöchlarn, Niederösterreich; † 22. Februar 1980 in Montreux, Schweiz)

Aus: Die träumenden Knaben

(...)
in meinem weißen zimmer war ich allein
doch vielleicht trug ich dich jetzt herein und es bleibt
und spricht wie aus schweren blumen etwas zu mir
mein zimmer wurde wie ein anderes land
in die weißen wälder tret ich ein
eines rentieres huf klingt und wirft in allen weißen wäldern
wiederleuchtende schneesterne auf
wie spitzengärten ist es um dich
rentierreiterin
und das rentier ist ein berg
deine kleider sind eine schneefläche
wo blumen werden
die berührung deiner dünnen finger
und die schneewälder stehen um dich wie staunende knaben
der schnee rinnt zusammen zu einem see
und auf einem roten fischlein warst du gesessen
ich hatte von dir nur gesehen deinen nackten hals in den haaren

ein stäblein wächst ins wasser hinunter
wo ist das ende alles wesens

aus deiner runden brust geht dein atem über den blauen see
wie leise ist das wirken alles wesens
ich greife in den see und tauche in deinen haaren

wie ein versonnener bin ich in der liebe alles wesens

und wieder fiel ich nieder und träumte

zu viel hitze überkam mich in der nacht
da in den wäldern die paarende schlange ihre haut streicht
unter dem heißen stein und der wasserhirsch reibt sein gehörn
an den zimmtstauden
als ich den moschus des tieres roch in allen niedrigen sträuchern

es ist fremd um mich
jemand sollte antworten
alles läuft nach seinen eigenen fährten
und die singenden mücken überzittern die schreie

wer denkt grinsende göttergesichter und fragt
den singsang der zauberer und altmänner
wenn sie die bootfahrer begleiten
welche frauen holen

und ich war ein kriechend ding
als ich die tiere suchte und mich zu ihnen hielt
kleiner
was wolltest du hinter den alten
als du die gottzauberer aufsuchtest

und ich war ein taumelnder
als ich mein fleisch erkannte

und ein allesliebender
als ich mit einem mädchen sprach

Aus: Oskar Kokoschka: Die träumenden Knaben und andere Dichtungen. Salzburg: Galerie Welz, 1959, S. 24/26

Oskar Kokoschka schrieb seine erste Dichtung, „Die träumenden Knaben“, 1907. Sie erschien 1908 im Verlag der Wiener Werkstätte und noch einmal 1917 bei Kurt Wolff. Die dem Text beigegebenen Lithographien sind noch ganz vom Jugendstil geprägt (Bilder findet man im Netz, wenn man nach dem Titel sucht. Hier zum Beispiel.). Der 22jährige Kokoschka widmete das bibliophile Buch mit acht Farblithographien Gustav Klimt. „Der Dichter war dem Zeichner Kokoschka in diesem Augenblick, entwicklungsgeschichtlich gesehen, voraus“, schreibt der Herausgeber von 1959.

Gar nichts

Ulrike Draesner

lahmendes ghasel

gar nichts
sagte jemand sei besser als nichts
wenn es weh tat weil eine reise nichts
bedeutet wenn sie einem nichts
ausmacht weil ich nichts
sah bis ich begriff dass ich nichts
(heimweh?) begriff nicht so
dass schleier mir nichts
mehr verbargen denn wer nichts
weiß sucht nichts
zu umarmen nicht
einmal als im spiegelnden „sichtn"
einer boîte de rêves die wie von nichts
silbergetrieben sich öffnete mir nichts
dir nichts
märchen lagen die sagten dass ich nichts
verstand und nun nichts
sage als im besten falle gar nichts

Aus: Ulrike Draesner, berührte orte. München: Luchterhand, 2008, S. 15

Die Seele

Fridolin Ganter

Die Seele sandt ich aus

Die Seele sandt ich aus, im Unsichtbaren
Ein Wort vom andern Leben zu entziffern;
Sie kehrte um und sprach: „Ich hab erfahren,
Dass in dir selbst sich Höll und Himmel paaren,
Wie sich die Hur im Hafen paart mit Schiffern."

Aus: GAF. Der GAlaktische Futurist Nr. 54, 7.6.2024, S. 9

Altes Lied

Ein Lied aus der Französischen Revolution, das 150 Jahre später in der DDR hochbrisant war und zwei junge Lyriker, Volker Braun und Wolf Biermann, zu eigenen, aktualisierten Versionen anregte. (Aber der Stoff war allzeit aktuell, vergleiche auch Shakespeares 66. Sonett!)

Pierre-Jean de Béranger 

(* 19. August 1780 in Paris; † 16. Juli 1857 ebenda)

SO WIRD ES SEIN 
Weise: 0 filii et filiac

Ihr fragt, wie’s mit uns weitergeht?
Ich weiß, was kommt, ich bin Prophet.
Mein Blick dringt in die Zukunft ein,
So wird es sein.

Kein Dichterling kriecht mehr im Dreck,
Der Mächtige jagt den Schmeichler weg,
Kein Höfling lügt mehr hundsgemein.
So wird es sein.

Kein Spieler wird, kein Spekulant,
Kein Wuchrer „edler Herr“ genannt,
Kein Bürokrat wagt mehr zu schrei’n.
So wird es sein.

Die Freundschaft stärkt den Lebensmut,
Ist mehr als frostiger Disput,
Läßt uns im Unglück nicht allein.
So wird es sein.

Nett sind die Mädchen und gescheit,
Gehn mit den Liebsten nicht zu weit,
Bis sie mit achtzehn Jahren frei’n.
So wird es sein.

Die Frau’n sind nicht auf Putz erpicht
Und hörnen ihre Männer nicht,
Läßt man sie mal zu Haus allein.
So wird es sein.

Kein Zensor preist als wahre Kunst
Statt Schöpfergeist nur Phrasendunst,
Nur Kauderwelsch und Flunkerein.
So wird es sein.

Wer Dramen schreibt, tut’s frei und kühn,
Den Hut die Mimen vor ihm ziehn,
Kein Rezensent mischt frech sich drein.
So wird es sein.

Wer lächelnd Größen kritisiert
Und ihren Klüngel parodiert,
Den sperrt der Büttel nicht gleich ein.
So wird es sein.

Geschmack fegt fort, was fade heut,
Statt Willkür herrscht Gerechtigkeit,
Wahrheit kehrt wieder bei uns ein.
So wird es sein.

Lobt Gott, der gnädig hält bereit,
All das, was ich hier prophezeit.
Im Jahr dreitausend – prägt’s euch ein
Wird es so sein!

Deutsch von Martin Remane, aus: Lieb war der König, oh-la-la! Satirische und patriotische Chansons von Pierre-Jean de Béranger. Berlin (Ost): Rütten & Loening, 1959, S. 50-53

AINSI SOIT-IL

1812

Air : Alleluia (Air noté ♫)

Je suis devin, mes chers amis ;
L’avenir qui nous est promis
Se découvre à mon art subtil.
Ainsi soit-il !

Plus de poëte adulateur ;
Le puissant craindra le flatteur ;
Nul courtisan ne sera vil.
Ainsi soit-il !

Plus d’usuriers, plus de joueurs,
De petits banquiers grands seigneurs,
Et pas un commis incivil.
Ainsi soit-il !

L’amitié, charme de nos jours,
Ne sera plus un froid discours
Dont l’infortune rompt le fil.
Ainsi soit-il !

La fille, novice à quinze ans,
À dix-huit avec ses amants
N’exercera que son babil.
Ainsi soit-il !

Femme fuira les vains atours,
Et son mari pendant huit jours
Pourra s’absenter sans péril.
Ainsi soit-il !

L’on montrera dans chaque écrit
Plus de génie et moins d’esprit,
Laissant tout jargon puéril.
Ainsi soit-il !

L’auteur aura plus de fierté,
L’acteur moins de fatuité ;
Le critique sera civil.
Ainsi soit-il !

On rira des erreurs des grands,
On chansonnera leurs agents,
Sans voir arriver l’alguazil.
Ainsi soit-il !

En France enfin renaît le goût ;
La justice règne partout,
Et la vérité sort d’exil.
Ainsi soit-il !

Or, mes amis, bénissons Dieu,
Qui met chaque chose en son lieu :
Celles-ci sont pour l’an trois mil.
Ainsi soit-il !

https://fr.wikisource.org/wiki/Œuvres_complètes_de_Béranger/Ainsi_soit-il

Lobet die Nacht

Bertolt Brecht (* 10. Februar 1898 in Augsburg; † 14. August 1956 in Berlin)


Großer Dankchoral

1
Lobet die Nacht und die Finsternis, die euch umfangen!
Kommet zuhauf
schaut in den Himmel hinauf:
Schon ist der Tag euch vergangen.

2
Lobet das Gras und die Tiere, die neben euch leben und sterben!
Sehet, wie ihr
lebet das Gras und das Tier
und es muß auch mit euch sterben.

3
Lobet den Baum, der aus Aas aufwächst jauchzend zum Himmel!
Lobet das Aas
lobet den Baum, der es fraß
aber auch lobet den Himmel.

4
Lobet von Herzen das schlechte Gedächtnis des Himmels!
Und daß er nicht
weiß euren Nam' noch Gesicht
niemand weiß, daß ihr noch da seid.

5
Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben!
Schauet hinan:
Es kommet nicht auf euch an
und ihr könnt unbesorgt sterben.

Aus: Antianthologie. Gedichte in deutscher Sprache nach der Zahl ihrer Wörter geordnet von Franz Mon und Helmut Heißenbüttel. München: Hanser, 1973, S. 33

Hier wird es reißen

Maren Kames

Die Suche nach einem Zusammenhang im Land gestaltet sich schwierig, die Infrastrukturen scheinen nahezu aufgelöst. Es gibt hier keine Wegweiser.

Aus: Maren Kames: Halb Taube halb Pfau. Berlin: Suhrkamp, 2024 (unpag.)

Ritual einer Abnabelung

Raja Lubinetzki

(* 6. Dezember 1962 in Kropstädt)

HINTER DEN WORTEN zu wohnen, 
das sind Reservate für geteilte Stirnen.

Noch immer gehen wir in den Haussocken
der Mütter und Väter spazieren.

Vor und während des Krieges
warn sie unsere verlorene Identität.

Bleibt jeder Grenzüberschritt,
ist dieses nachvollzogene Ritual
einer Abnabelung.

Das nehmen die Mütter übel
und wollen das Kind
wie eine Enttäuschung nicht mehr.

Und die Mütter sind dieses Land,
in dem man geboren wurde,
auf der Stirn ihr Markenzeichen.

(1988)

Aus: Raja Lubinetzki: Der barfußne Tag. Gedichte. Mit Zeichnungen der Autorin. Berlin: Distillery, 2019, S. 4

Auf der Milchstraße wieder kein Licht!

Rolf Bossert 

(* 16. Dezember 1952 in Reșița, Banater Bergland, Volksrepublik Rumänien; † 17. Februar 1986 in Frankfurt am Main)

Lied

Wohin mich mein Weg heute führt:
Ich weiß es am Morgen noch nicht.
Am Abend dann, peinlich berührt:
Auf der Milchstraße wieder kein Licht!

Verbotsschilder sprechen für sich.
Und dennoch: Ich pfeif aufs Verbot!
Im Sternenwald füttere ich
Den Großen Bären mit Brot.

So treib ichs seit einiger Zeit.
Dem Herrgott begegne ich kaum,
Ein paarmal nur seh ich ihn weit
Verloren im krummen Raum.

Langsam kommt dann die Müdigkeit auf:
Ich habe das Trampen verlernt.
Ich schlage mein Himmelszelt auf,
Einen Steinwurf vom Weltall entfernt.

Aus: Rolf Bossert, Ich steh auf den Treppen des Winds. Gesammelte Gedichte 1972-1985. Hrsg. Gerhardt Csejka. Frankfurt/Main: Schöffling, 2006, S. 155

Bossert beantragte im Juli 1984 mit seiner Familie die endgültige Ausreise nach Deutschland. Bossert verlor in der Folge seinen Arbeitsplatz und erhielt Publikationsverbot. Nach einer abendlichen Dichterlesung wurde er niedergeschlagen, wobei ihm der Kiefer gebrochen wurde. Die Rumänische Miliz entschuldigte sich bei Bossert. Im August 1984 wurde Rolf Bossert vom rumänischen Geheimdienst Securitate verhört und gezwungen, ein „Verwarnungsprotokoll“ zu unterschreiben, das ihn unter den Verdacht stellte, mit seinen Texten eine staatsfeindliche Haltung zu propagieren.

Weihnachten 1985 konnte er mit seiner Frau Gudrun und seinen zwei Söhnen nach Deutschland ausreisen, jedoch durchsuchten Sicherheitsbeamte vor Bosserts Ausreise seine Wohnung und beschlagnahmten sämtliche Manuskripte und Arbeitsunterlagen. Zwei Monate nach seiner Ausreise wurde Rolf Bossert in einem Aussiedlerheim in Frankfurt am Main leblos unter seinem geöffneten Zimmerfenster aufgefunden. Die Umstände seines Todes blieben weitgehend ungeklärt. https://de.wikipedia.org/wiki/Rolf_Bossert

Gegengewicht

GAF. Der GAlaktische Futurist heißt ein mehrsprachiges Literaturmagazin, das Ilia Kitup in Berlin herausgibt und verkauft, manchmal auch verschenkt. Am vergangenen Sonnabend hatte der Verleger einen Tisch auf der Veranstaltung „Bücher ohne Messe“ in bzw. vor der Hufelandstraße 35. Er las auch selber ein paar Gedichte, bevor er wieder zu seinem Büchertisch eilte, was sein Autor Alistair Noon kommentierte, sein Verleger türme, wenn er lese. Im letzten November erschien Nr. 50, The 12th War Issue steht auf dem Titelblatt. Das Heft enthält auf 16 Seiten Texte auf Englisch, Deutsch und Arabisch von Artur Rockzane, Salah Yousif, Jordan Lee Schnee, Sparrow, Clemens Schittko, Anatolij Gavrilov und anderen sowie einen Index der ersten 50 Hefte. Aus dem Heft ein Gedicht von Sparrow, seit Jahren Stammautor von GAF.

Sparrow

All the Poets

We need all the poets,
everywhere.

If only „good poets" wrote,
the world would end.

We need „bad poets,"
to balance them.

GAF. Der GAlaktische Futurist 50, 2023, S. 7

Alle Dichter

Wir brauchen alle Dichter,
überall.

Die Welt ginge unter,
schrieben nur "gute Dichter".

Wir brauchen "schlechte Dichter"
als Gegengewicht.

(Übersetzung von mir)

Ilia Kitup verlässt das Lesetischchen.

Propeller Publishers, Berlin. Bestellungen unter mailto:ilia.kitup@gmail.com.

Rotweinflecke mit Blut

Kai Pohl

Der Dreck

Kaffeeflecke gehn mit Rotwein raus
Rotweinflecke mit Blut
Blutflecke mit Teer –

Teerflecke
brennst du am besten mit Feuer raus
(wen stören schon die Löcher)

oder du trinkst Rotwein
viel Rotwein
und gehst wenn das Klo verstopft ist

in den Hof
pinkelst in den Müllcontainer
(der im Winter meistens brennt)

und brüllst
dass dich die Sache mächtig
anstinkt

Aus: Kai Pohl, Möwen in Rotwein auf Zen-Sand. PBN Prenzlauer Berg Collection. Falzdichtung drei. EdK Berlin 2020

„Lied von Nichts“, Rühmkorfs Fassung

Peter Rühmkorf 

(* 25. Oktober 1929 in Dortmund; † 8. Juni 2008 in Roseburg im Kreis Herzogtum Lauenburg)

Wilhelm von Aquitanien

(Wilhelm der IX., französisch Guilhem IX * 22. Oktober 1071; † 10. Februar 1126, “ bekannt als „der erste Trobador“)

Mein Lied wird um rein nichts sich drehn

Mein Lied wird um rein nichts sich drehn:
Weder um mich noch irgendwen,
Um Liebe nicht noch Jugendwehn,
Noch andern Tand;
Zu Pferd ist und im Schlaf geschehn
Daß ichs erfand.

Weiß von Geburt nicht Stern noch Zeit,
Bin nicht daheim und bin nicht weit,
Verspüre weder Lust noch Leid –
Nichts rührt mich an;
Mich hat die tiefe Nacht gefeit,
Auf Berges Plan.

Ich weiß nicht wach ich oder währt
Mein Schlaf noch, wirds mir nicht erklärt.
Nahzu hat sich mein Herz verzehrt
In tiefer Qual –
Doch ist es keine Maus mir wert,
Bei Sankt Martial!

Bin krank und wohl vom Tod geplagt,
Weiß nur was man mir drüber sagt;
Wo ist der Arzt der mir behagt?
Hab schwere Wahl;
Ob er mich heilt, ob er versagt –
Mir ists egal.

Aus: Peter Rühmkorf: Mein Lesebuch. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1986, S. 283.

Die erste Strophe im Original:

Farai un vers de dreyt nien :
Non er de mi ni d'autra gen,
Non er d'amor ni de joven,
Ni de ren au,
Qu'enans fo trobatzen durmen
Sobre chevau.

Mein Schatten

Christine Lavant

(* 4. Juli 1915 in Groß-Edling bei St. Stefan im Lavanttal, Kärnten; † 7. Juni 1973 in Wolfsberg)

Mein Schatten kann über Wasser gehen, 
wenn Mond oder Sonne nur richtig stehen,
mein Schatten glänzt dann am Scheitel.
Dieses Glänzen ist freilich bloß eitel
und kann nichts erwärmen, nie leibhaftig sein,
doch manchmal verdankt ihm ein einfacher Stein,
daß er silbern erstrahlt vor den andern.
Mein Schatten geht selbständig wandern,
auch oft in der Nacht aus dem untersten Traum,
mich hängt er dann so wie ein Pferd an den Baum
des Schlafes und läßt mir kein Futter.
Ich schreie um Vater und Mutter,
auch um die Geschwister und um den Tod,
doch bringen sie mir weder Zucker noch Brot,
ich höre nur alle von ferne.
Sie reden mir zu durch ein gläsernes Tor
und schließlich kommt doch nur mein Schatten hervor
in Begleitung ertrunkener Sterne.

Erstveröffentlichung in Merkur 10/ 1958, S. 923. Aus: Christine Lavant, Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte. Herausgegeben und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser (Werke in vier Bänden, Band 1). Göttingen: Wallstein, 2014, S. 288

Bild: KI

Familienwerte

Daniela Boltres

Die Autorin, 1972 in Bukarest geboren, schreibt ihre Gedichte oft zuerst in rumänischer oder siebenbürgisch-sächsischer Sprache und »übersetzt« sie danach ins Deutsche. Anm. d. Red. „Risse“

SIEBENBÜRGISCH-SÄCHSISCHE WELT
IN WORT UND BILD
*

Die Glocken läuten.
Ich lernte von Opa,
wo ich sitzen darf.
Beim Herrn Pfarrer,
wo das Dorf im Himmel stand.

Im Garten jätet Oma.

Die Sirenen bellen.
Vater lernte nicht,
wann man nicht mehr arbeiten darf.
In der Schule lernte ich,
dass ich zu lernen und zu lernen hab.

Im Garten jätet Oma.

Der Himmel brennt.
Orange fällt die Wäsche
Mam' in den Schoß.
Im Spital liegt ein Arm voll
Hiroshima** bloß.

Im Garten jätet Oma.

Der Himmel brennt.
Die Sirenen bellen.
Die Glocken läuten.
Im Garten jätet Oma.

*) Übersetzung aus dem Siebenbürgisch-Sächsischen

**) Hiroshima heißt im Volksmund ein Stadtteil in Zeiden/Codlea in Siebenbürgen in Rumänien, in dem ein Chemiebetrieb seine Abwässer ungefiltert in den Fluss einleitete.

Das siebenbürgisch-sächsische Original:

SAKSESCH WORELT A WOERT OCH BELD

De gleuken leeden.

M'am ota hun ech geloirt,
wie ech sazen toerf.
m'am har for,
wie det dorf am heemel steut.

De oma kreet am guerten.

De sirenen billen
Der tat huet net geloirt,
wonoi em arbeden toerf.
An der scheil,
dat eaos loend die ouwen stoet.

De oma kreet am guerten.

Der heemel broat.
Orange foalt de waesch
der mam an den scheis
am spideol kit en
orfoll hiroschima un.

De oma kreet am guerten.

Der heemel broat.
De sirenen billen.
De gleuken leeden.
De oma kreet am guerten.

Aus: RISSE. ZEITSCHRIFT FÜR LITERATUR IN MECKLENBURG UND VORPOMMERN, NR. 23 | HERBST 2009, S. 26-28

nicht nichts

Urs Engeler

nicht nichts

1


als ob
es eine andere geben würde mit
andern Menschen
und
andern Gegenständen
die nicht mehr anders sind sondern

genau

so

:

Aus: Urs Engeler, nicht nichts. Gedichte 1984-2024. Schupfart, Mai 2024 (Das Versteck 279)