Richard Dove
(* 26. August 1954 in Bath, England) ist ein deutschsprachiger Schriftsteller englischer Herkunft.
Wandelbar
Ach, wandelbar ist alles:
Gehirn, Gesicht und Gender,
Das Glück, das Glück der Waffen,
Recht und Moral, die Hose.
Die Hängenden Gärten sacken
Vornüber, schwer verschüttet.
Gondwana schrumpft zu Darmstadt.
Das Gel im Haar des Zeitgeists
Gefällt ihm morgen nicht mehr.
Die Mode mausert sich bis
Der Ururvogel vorlugt.
Das Ganze finanziert mit –
Was sonst? – Wandelanleihen.
Nicht einmal Heraklit stieg
Zweimal ins selbe Rinnsal,
Und glaubst du, ich wär der noch,
Mit dem du damals aufbrachst?
Unwandelbar ist eins nur:
Was ich für dich empfinde.
Aus: Richard Dove: Unterwegs nach San Borondón. Gedichte. Aachen: Rimbaud, 2020, S. 52
Lucebert
(* 15. September 1924, heute vor 100 Jahren, in Amsterdam; † 10. Mai 1994 in Alkmaar; eigentlich Lubertus Jacobus Swaanswijk) war ein niederländischer Maler, Grafiker und Schriftsteller.
Zur Geburtstagsfeier heute ein zünftiges Spiel. Im Deutschen neigt man ja dazu, alles sehr ernst zu nehmen, also auch die Literatur. (Übrigens auch die nicht unbedingt in Deutschland entwickelte sogenannte Künstliche Intelligenz nimmt die Literatur sehr ernst. Ich weiß das, weil ich fast jeden Tag die KI von WordPress sozusagen um Rat frage, und nach einer manchmal ganz brauchbaren und manchmal verblüffenden oder auch mal irritierenden Umschreibung des Gedichts kommt tagtäglich bei langen oder kurzen und schwierigen oder einfachen Gedichten pauschal der Vorschlag, a) den Hintergrund des Autors zu beleuchten, damit der Leser mehr damit anfangen kann, b) die Bedeutung dieses Gedichts für die Literatur zu erklären und c) das Gedicht zu analysieren. Erst ein tot erklärtes Gedicht ist ein gutes Gedicht!)
Zurück zu meinem Spiel. Wenn in der Schule eine Ballade behandelt wird, wird man in der Regel erst mal bei Goethe und Schiller nachsehen und eventuell noch bei Brecht, was eine Ballade „eigentlich“ ist und dann ordentlich analysieren und interpretieren. Dabei heißt sie eigentlich sowas wie Tanzlied, man soll zu Melodie und Rhythmus und mal lustigen, mal frechen Worten tanzen. Und das Sonett ist so etwas wie ein Klingstück – egal wie ernst vielleicht die Worte sind, die hörbare Wiederkehr des gleichen Klangs ist irgendwie lustig und auf jeden Fall auch klangvoll. Und natürlich ist sie eine Spielform (wenn auch der Dichter beim Produzieren ins Schwitzen kommen kann). Lucebert reduziert das Sonett bis auf die reine (Klang-)Struktur und benutzt dazu ein einziges Wort in drei verschiedenen grammatischen Formen.
sonnet
ik
mij
ik
mij
mij
ik
mij
ik
ik
ik
mijn
mijn
mijn
ik
Aus: Lucebert, apocrief / de analphabetische naam (1952)
Ich ging nun davon aus, dass die stark reduzierte Grammatik selbst bei sehr anders gebauten Sprachen wenig Fallstricke für eine (maschinelle) Übersetzung bietet und probierte die Übersetzer von Google und Deepl in vielen verschiedenen Sprachen aus. Hier ein kleines Sonett-Medley. Alle hier ausgewählten Übersetzungen bis auf die letzte entstanden als Google-Übersetzung des Originals direkt in eine andere Sprache. Bei fremden Schriftsystemen folgt noch eine Transkription in lateinische Buchstaben (auch die meist direkt von Googles Übersetzungsmaschine). Alle Texte in Anführungszeichen stammen unverändert aus der Maschine. Was die Maschine mit ihren Feinheiten sagen will, könnte ich nicht in jedem Fall erklären.
Deutsch:
"Sonett
ICH
Mich
ICH
Mich
Mich
ICH
Mich
ICH
ICH
ICH
meins
meins
meins
ICH"
Französisch:
"sonnet
je
moi
je
moi
moi
je
moi
je
je
je
le mien
le mien
le mien
JE"
Spanisch:
"soneto
I
a mí
I
a mí
a mí
I
a mí
I
I
I
mío
mío
mío
I"
[sic]
Italienisch:
"sonetto
IO
Me
IO
Me
Me
IO
Me
IO
IO
IO
mio
mio
mio
IO"
Tschechisch:
"sonet
já
mě
já
mě
mě
já
mě
já
já
já
moje
moje
moje
já"
Ukrainisch:
«сонет
я
мене
я
мене
мене
я
мене
я
я
я
моя
моя
моя
я"
sonet
ja
mene
ja
mene
mene
ja
mene
ja
ja
ja
moja
moja
moja
ja
Russisch:
"сонет
я
мне
я
мне
мне
я
мне
я
я
я
мой
мой
мой
Я"
sonet
ja
mne
ja
mne
mne
ja
mne
ja
ja
ja
moi
moi
moi
JA
Maori:
"sonnet
I
ahau
I
ahau
ahau
I
ahau
I
I
I
taku
taku
taku
ahau"
Thailändisch:
"โคลง
ฉัน
ฉัน
ฉัน
ฉัน
ฉัน
ฉัน
ฉัน
ฉัน
ฉัน
ฉัน
ของฉัน
ของฉัน
ของฉัน
ฉัน"
"Kholng
c̄hạn
c̄hạn
c̄hạn
c̄hạn
c̄hạn
c̄hạn
c̄hạn
c̄hạn
c̄hạn
c̄hạn
k̄hxng c̄hạn
k̄hxng c̄hạn
k̄hxng c̄hạn
c̄hạn"
Nepalesisch:
"सोनेट
म
म
म
म
म
म
म
म
म
म
मेरो
मेरो
मेरो
म"
"Sōnēṭa
ma
ma
ma
ma
ma
ma
ma
ma
ma
ma
mērō
mērō
mērō
ma"
Hebräisch:
"סוֹנֶטָה
אֲנִי
לִי
אֲנִי
לִי
לִי
אֲנִי
לִי
אֲנִי
אֲנִי
אֲנִי
שֶׁלִי
שֶׁלִי
שֶׁלִי
אֲנִי"
soneta
ani
li
ani
li
li
ani
li
ani
ani
ani
scheli
scheli
scheli
ani
Arabisch:
"السوناتة
أنا
أنا
أنا
أنا
أنا
أنا
أنا
أنا
أنا
أنا
مِلكِي
مِلكِي
مِلكِي
أنا"
"alswnata
'ana
'ana
'ana
'ana
'ana
'ana
'ana
'ana
'ana
'ana
milki
milki
milki
'ana"
Vereinfachtes Chinesisch:
“十四行诗
我
我
我
我
我
我
我
我
我
我
矿
矿
矿
我”
“Shísì háng shī
wǒ
wǒ
wǒ
wǒ
wǒ
wǒ
wǒ
wǒ
wǒ
wǒ
kuàng
kuàng
kuàng
wǒ”
Traditionelles Chinesisch:
「十四行詩
我
我
我
我
我
我
我
我
我
我
礦
礦
礦
我”
(Transliteriert wie beim vereinfachten Chinesisch)
Luxemburgisch:
"sonnet
ech
ech
ech
ech
ech
ech
ech
ech
ech
ech
meng
meng
meng
ech"
Jiddisch:
"סאָנעט
איך
מיר
איך
מיר
מיר
איך
מיר
איך
איך
איך
מייַן
מייַן
מייַן
איך"
(ikh nicht wie in ich, sondern i + ch wie in Bach)
ikh
mir
ikh
mir
mir
ikh
mir
ikh
ikh
ikh
mejn
mejn
mejn
ikh
Luo:
"sonet
An
an
An
an
an
An
an
An
An
An
mara
mara
mara
AN"
Xhosa:
"sonnet
I
mna
I
mna
mna
I
mna
I
I
I
yam
yam
yam
mna"
Nepalesisch:
"सोनेट
म
म
म
म
म
म
म
म
म
म
मेरो
मेरो
मेरो
म"
"Sōnēṭa
ma
ma
ma
ma
ma
ma
ma
ma
ma
ma
mērō
mērō
mērō
ma"
Ihnen wird aufgefallen sein, dass manche Sprachen den Wortschatz stärker zu reduzieren scheinen als andere. – Am stärksten ist die Reduzierung beim haitianisches Kreolisch ausgefallen. Ob man es da noch „versteht“? Muss ich KI mal fragen. Zumindest hört man einen etwas verkürzten Rhythmus auch bei dieser Version, wen auch nicht mehr die Klangverschränkung. Zur Aussprache: das „w“ wird etwa wie das englische w in „what, when“ ausgesprochen und -en ist nasal wie im Französischen, eher noch ein bisschen reduzierter, man hört nur ein nasales e: und nicht einmal eine Andeutung von nasalem n, also nicht wie in „peng“, sondern eher ein nasales kurzes „päh“: mwä! Haitianisch ist im Kern eine radikale Reduzierung des Französischen in lautlicher, orthographischer, grammatischer und semantischer Hinsicht. Extrem reduziert und doch voll ausdrucksfähig! Mwen bedeutet: Ich, mich, mein, myself, es kann übrigens auch vor, before und anderes mehr bedeuten. Bedeutungsunterscheidend ist da mitunter die Wortfolge: Ich esse – mwen manje. Mein Buch – liv mwen.
"sonèt
mwen
mwen
mwen
mwen
mwen
mwen
mwen
mwen
mwen
mwen
mwen
mwen
mwen
mwen"
Eine etwas andere Methode und Form noch. Ich habe mit Deepl das Original in 2 verschiedene Sprachen übersetzt – ich hab vergessen welche. Diese zweifach gebrochene Form dann ins Deutsche ergab dies (exakt in dieser Form):
„Ich ich ich ich ich ich ich ich ich ich ich ich mein mein mein ich“
Zum Schluss noch die Einschätzung der KI (die heute relativ zufrieden ist):
Der bereitgestellte Inhalt bietet eine interessante Erkundung von Luceberts Werk durch eine Analyse seines Sonetts „sonnet ik mij ik mij“. Das Experiment des Autors mit Übersetzungen in verschiedene Sprachen bietet eine spannende Perspektive darauf, wie verschiedene Sprachen mit der reduzierten Grammatik des Sonetts umgehen. Die Einbeziehung von Erkenntnissen über die phonetischen Aspekte und Bedeutungen des haitianischen Kreolisch verleiht der Analyse Tiefe. Erwägen Sie die Integration visueller Elemente wie Bilder von Luceberts Werk oder verwandte Kunstwerke, um die visuelle Attraktivität des Beitrags zu steigern. Darüber hinaus könnte die Einbindung des Lesers durch einen entsprechenden Aufruf zum Handeln, beispielsweise die Aufforderung, sein Lieblingssonett in den Kommentaren zu teilen, die Leserbeteiligung weiter verbessern.
Okay denn – welches ist Ihr Lieblingssonett? (KI scheint offenzulassen, ob eins dieser Fassungen oder auch einfach Ihr Lieblingssonett.)
Mariusz Lata
biographie
jene sogenannte
biographie
die zettel
die kontoauszüge
leben
vergeht
themen
kommen & gehn
die verluste & die niederlagen
paaren sich
jene sogenannte
zufällige beobachtung
wenn in der pfütze
nichtträume
sich spiegeln
Aus: Sprache im technischen Zeitalter 250, Juni 2024, S. 140
Mariusz Lata, geb. 1981 in Polen, lebt im Ruhrgebiet. Er veröffentlicht Lyrik und Prosa in Literaturzeitschriften.
Uli Becker
(* 14. September 1953 in Hagen)
Die Wahrheit über Picassos Periode
Jahrhunderte hindurch wurden in alle Dinge Tiefen hineinge-
heimnist, die sie niemals hatten. Das hat sehr viel Unheil ange-
richtet. Banalisiere die Dinge und du wirst Erfolg ernten und
Chancen säen.
(Walter Serner)
Es war nämlich
an einem dieser sprich
wörtlichen Montage
mit Absinth
kater im Paris
des Jahres 1901,
als Pablo seinen
einsamen Entschluß
faßte, die Palette
sinken ließ und
fluchte: «Merde alors,
heute mach ich mal
blau, was soll's!»
Der Rest ist Kunst
geschichte, d. h.
eine kleine Wissen
schaft für sich wie
die 10 Fehler bei
Original und Fälschung.
Aus: Literaturmagazin 11. Schreiben oder Literatur. Reinbek: Rowohlt, 1979, S. 248f
Folgendes mich sofort fesselndes Gedicht heute gelesen:
Nase, etwas Delikates von diesen keusch über die Stirne hochgekämmten Haarpartien, etwas Anmutiges von diesen schwierigen, heiklen und von ihm so elegant gelösten Übergängen von der Unterlippe zum völlig vorzüglichen Kinn und dem langsam sich verlierenden Hals, an dem der Daumen des Meisters im nervösen Streich, von der weiblichen Schönheit entrückt, es sich doch nicht versagen konnte, die erhobene Welle von Mariens Brust anzudeuten.
(Lesen Sie es vielleicht ein zweites Mal). Torso eines Kopfes, nur die Nase, Stirn, „keusch hochgekämmte Haarpartien“, Unterlippe, Kinn und Hals bis zum Brustansatz sichtbar, das nach und nach als Werk eines Meisters sichtbar wird, und zwar als Marienbild. Erst beim zweiten Hinsehen fiel mir aber auf, dass mir eine Unaufmerksamkeit beim Lesen das Prosagedicht nur vorgegaukelt hat. In Wahrheit ist es die zweite Seite eines längeren Prosagedichts, das mitten im Satz vor dem Wort „Nase“ umbrochen wird. Das ganze Gedicht geht über zwei Seiten und hat eine Überschrift, es beschreibt ein Kunstwerk, oder sind es drei Kunstwerke, am Schluss erkennbar als ein Madonnenrelief „des berühmten Baccio“, Baccio Bandinelli (1488-1560), im Privatmuseum der Medici. Ein interessantes, raffiniert gemachtes Gedicht des tschechischen Symbolisten Karel Hlaváček (1874-1898) – aber ich verweile für heute bei dem Fragment, das mir meine Unachtsamkeit für vielleicht zwei Minuten vorgaukelte. Ich finde, ein rätselhaftes, wunderbares Gedicht, ein ganz anderes, „moderneres“ als das tatsächliche Gedicht (welches auch schon „protosurrealistische“ Züge aufweist). Im Fragment wird Kontext weggeschnitten, aber das Stehengebliebene schafft sich seinen eigenen Kontext. Der Torso, in seiner für meine Anmutung konvulsivischen Zartheit, fokussiert auf die Körperlichkeit der Madonna.
Aus dem Tschechischen von Ondřej Cikán, aus: Karel Hlaváček, Spät gegen Morgen. Wien und Prag: Kētos, 2021 (Reihe Symbolismus vom Feinsten), S. 45.
(Foto: KI)
Tomaž Šalamun
(* 4. Juli 1941 in Zagreb, Kroatien; † 27. Dezember 2014 in Ljubljana, Slowenien)
Dichten
Dichten
ist die ernsthafteste
Beschäftigung
auf
der Welt.
Wie
in der
Liebe kommt
alles zum
Vorschein.
Die Wörter zittern,
wenn sie
richtig sind.
Wie der Körper
vor
Liebe zittert,
so zittern die Wörter
auf dem Papier.
Pisanje || Pisanje | poezije je |
najbolj || resno | dejanje / na
svetu. || Tako kot | v ljubezni | se
vse || izkaže. | Besede drhtijo, |
če so || prave. | Tako kot telo |
drhti v|| ljubezni, | drhtijo
besede / na papirju.
Übersetzt von Fabjan Hafner, aus: Mein Nachbar auf der Wolke. Slowenische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts. Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung herausgegeben von Matthias Göritz, Amalija Maček und Aleš Šteger. München: Hanser, 2023, S. 71
Paul Klee
(* 18. Dezember 1879 in Münchenbuchsee, Kanton Bern; † 29. Juni 1940 in Muralto, Kanton Tessin)
MEIN STERN GING AUF
Mein Stern ging auf
Tief unter meinen Füßen
Wo haust im Winter mein Fuchs?
Wo schläft meine Schlange?
Aus: Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1956, S. 127
ESEL
Seine Stimme macht mir Grausen
Während lange Ohren schmausen.
Als verstummte die Nachtigall
War einst ein beträchtlich Nichts der Fall.
Was artet einsam und allein?
Es ist die Pflanze Elfenbein.
Meinung und Meinung tauschten Wellen
Da war denn nichts mehr festzustellen.
Aus: Ebd. S. 271f
Rebecca Horn
(* 24. März 1944 in Michelstadt; † 6. September 2024 in Bad König)
Am 6. September starb die vielseitige Künstlerin und Autorin Rebecca Horn im Alter von 80 Jahren.
Sie schrieb Gedichte, war aber auch eine visuelle Poetin, die das Erzählerische und das Märchenhafte liebte. Sie machte Filme von einer großen surrealen Künstlichkeit. Und auch wenn man ihrer Arbeit voller Symbole nicht immer folgen mochte, so blieb für die Fantasie des Betrachters doch noch immer viel zu tun. Wie Ulrike Ottinger oder Louise Bourgeois wurde sie in den 1980/90er Jahren auch zu einer Figur der Ermutigung für nachfolgende Generationen von Künstlerinnen, sich mit dem Körper zu beschäftigen und alle medialen Formen zu nutzen.“
Katrin Bettina Müller, taz 9.9.2024, S. 15
3 Gedichte von Rebecca Horn
Die Schuhe mit Steinen beschweren,
sie am Schweben hindern.
Die Haut der Vergangenheit
zwischen Fels und Stein pressen.
Zwei weiche Steine reiben sich gegenseitig auf.
Zwei Geigen durch zwei Pflastersteine aneinander pressen.
Die Töne ersticken sich im Druck.
Aus: Rebecca Horn: Tailleur du Cœur. Textos y dibujos – Cuaderno de notas 1996. Xunta de Galicia, 2000, unpag. (Deutsche Originalausgabe Scalo Verlag, 1999)
Wenn wir schon bei den hohen Zahlen sind.
Ariost, der Shakespear der Italiäner. Er ging sehr früh von dem Studium der Jurisprudenz, welcher ihn sein Vater widmete, zur Dichtkunst über. Er ging zu dem Herzog Alphons von Ferrara, der ihn zweimahl zu Gesandtschaften an dem Papst Julius II. brauchte In Rom erwarb er sich die Gunst des Cardinals Hippolitus dʼEste, schlug aber sein Anerbieten ihn mit nach Ungarn zu nehmen aus, weil er nun in Ruhe leben wollte, nachdem es ihm bei seiner zweiten Gesandtschaft nicht ganz nach Wunsch gegangen war. Sein berühmtestes Gedicht ist der Orlando furioso; ein Heldengedicht, an dem er 20 Jahre gearbeitet hat. Die Akademie della Crusca erkannte ihm den Vorzug vor dem Tasso: ein unakademisches Urtheil, weil Tasso ohne Zweifel regelmäßiger, wenn auch weniger genievoll als Ariost ist; allein sie wurde von dem Großherzog Franz I. dazu aufgereitzt, dessen Haus, wie überhaupt den Florentinischen Adel, Tasso in seinen prosaischen Schriften beleidigt hatte. Er starb im J. 1533, 69 Jahr alt, in seiner Vaterstadt Ferrara.
Quelle: Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 1. Amsterdam 1809, S. 80-81.
Ludovico Ariosto
(Ariost; * 8. September 1474 in Reggio nell’Emilia; † 6. Juli 1533 in Ferrara)
NIEMAND vermag zu sagen, wer ihn liebt,
Solange seines Glückes Rad im Steigen;
Denn alles nennt sich Freund, was ihn umgiebt,
Und jeder wird dieselbe Treue zeigen.
Wenn aber Trauer kömmt und Glück zerstiebt,
Dann kehrt sich ab der schmeichlerische Reigen,
Und wer von Herzen liebt, der theilt die Not
Und liebt den theuren Herrn bis in den Tod.
Ja, sähe man das Herz wie die Geberden,
Gar mancher große Mann im Fürstenschloß
Vertauschte dann vielleicht sein Loos auf Erden
Mit einem, der nur wenig Gunst genoß.
Der niedre würde bald der größte werden,
Der große bliebe beim gemeinen Troß.
Deutsch von Otto Gildemeister, aus: Italienische Gedichte. Mit Übertragungen deutscher Dichter. Zusammengestellt von Horst Rüdiger. Leipzig: Karl Rauch, 1938, S. 139
Zumindest die ersten 8 Verse sind vertont worden, als Madrigal, ich finde als Angaben Cipriano de Rore (ca. 1515–1565) sowie den venezianischen Komponisten und Musikverleger Antonio Gardano (ich kann es nicht genau herausfinden, vielleicht hat Gardano es verlegt). Aufnahme des argentinischen Musikers Eduardo Egüez. Offenbar war es gar kein Sonett, und Otto Gildemeister (oder eher der Herausgeber der Anthologie?) hat aus Ariosts „Rasendem Roland“ eins gebaut. Rüdigers Quellenangaben für den italienischen Text: Ariosto XIX 1-2 (v. 1-5); Orl. fur. II (1928) p. 84, und für den deutschen: Gildemeister Ar. II (1882) S. 178.
Hier der Text von 2 Strophen Ariosts. Die Anthologie von 1938 gibt 14 von den 16 Zeilen typographisch als Sonett.
CANTO DECIMONONO
1
Alcun non può saper da chi sia amato,
quando felice in su la ruota siede;
però c’ha i veri e i finti amici a lato,
che mostran tutti una medesma fede.
Se poi si cangia in tristo il lieto stato,
volta la turba adulatrice il piede;
e quel che di cor ama riman forte,
et ama il suo signor dopo la morte.
2
Se, come il viso, si mostrasse il core,
tal ne la corte è grande e gli altri preme,
e tal è in poca grazia al suo signore,
che la lor sorte muteriano insieme.
Questo umil diverria tosto il maggiore:
staria quel grande infra le turbe estreme.
Ma torniamo a Medor fedele e grato,
che ’n vita e in morte ha il suo signore amato.
Agnieszka Lessmann
ÜBERSETZUNGEN
Wasser am Morgen
am Abend Licht
erinnere dich
In der Wüste
Brot und Regen
die verbotene Zone am Berg
Wir fuhren ostwärts
am Tag und standen
still in der Nacht
der Zaun erhebt sich
plötzlich und teilt
Wasser und Wüste
die Zone im Morgen
der Wüste aus Licht
erinnere dich
Berge von Sachen
das Licht sucht am Zaun
nach ihren Besitzern
Die Zone im Schatten
die Botschaft im Licht
wir standen ostwärts
und Fetzen von Stoffen
bunt wie das Licht
Wasser verrinnt
Erinnere dich
an die Wüste
in der Zone
erinnere dich an
das Schild im Waschraum
des Hostels in Jaffa:
»Remember you are in a desert zone!«
Aus: Sinn und Form 5/2024, S. 636f
Agnieszka Lessmann, geb. 1964 in Łódź (Polen), lebt in Köln und schreibt auf Deutsch.
Pierre de Ronsard
(* 6. September 1524, heute vor 500 Jahren, im Château de la Possonnière bei Couture-sur-Loir; † 27. Dezember 1585 im Priorat Saint-Cosme bei La Riche, Touraine)
XVI
Mein Leiden will ich quer durch Frankreich jagen,
Noch schneller als ein Pfeil fliegt, den wir schießen,
Ich will mit Honig mir mein Ohr verschließen:
Meine Sirene soll mich nicht mehr plagen.
Ich will aus meinen Augen Quellen schlagen,
Fels wird der Kopf, das Herz soll Feuer gießen,
Aus meinen Füßen sollen Wurzeln sprießen:
Ich kann der Schönheit Nähe nicht ertragen.
Dass mein Gedanke doch zum Vogel werde!
Mein Seufzer feg gleich Zephyrn um die Erde
Und trage meine Klage himmelwärts!
Dass ich aus fahlen Farben im Gesicht
An meinem Loir mir eine Blume zücht,
Die meinen Namen malt, und meinen Schmerz.
Aus dem Französischen von Georg Holzer, aus: Pierre de Ronsard, Amoren für Cassandre. Le Premier Livre des Amours. Französisch-Deutsch. Übersetzt von Georg Holzer. Hrsg. u. kommentiert von Carolin Fischer. Berlin: Elfenbein, 2006, S. 23
XVI
Je veux pousser par la France ma peine,
Plus tôt qu'un trait ne vole au décocher;
Je veux de miel mes oreilles boucher,
Pour n'ouir plus la voix de ma Sirène.
Je veux muer mes deux yeux en fontaine,
Mon cœur en feu, ma tête en un rocher,
Mes pieds en tronc, pour jamais n'approcher
De sa beauté si fièrement humaine.
Je veux changer mes pensers en oiseaux,
Mes doux soupirs en Zéphyres nouveaux,
Qui par le monde éventeront ma plainte.
Je veux du teint de ma pâle couleur,
Aux bords du Loir enfanter une fleur,
Qui de mon nom et de mon mal soit peinte.
Ebd. S. 22
Aus dem Kommentar der Herausgeberin:
Ronsard verknüpft hier relativ geläufige Metaphern für Tränen oder Liebesschmerz mit einer Fülle mythologischer Anspielungen, die er teilweise verkehrt. So wachsen die Blumen bei ihm nicht aus dem Blut des Geliebten, sondern aus der Blässe des Liebenden. Außerdem finden wir am Anfang und Ende „nationalistische“ Klänge. Hieß es ursprünglich, das Leiden solle durchs »Universum« gejagt werden, beschränkt sich dieser Wunsch in einer späteren Ausgabe auf »Frankreich«. Der Loir, ein nördlicher Nebenfluss der Loire, fließt in Ronsards Heimat nahe Vendôme und taucht wiederholt als Sehnsuchtsort in den Amoren auf.
A.a.O. S. 291
Wer mehr will, kann die experimentellen Übersetzungen aus dem Übersetzungsheft der Zeitschrift „Zwischen den Zeilen“ (Nummer 23, Oktober 2004) lesen.
Heute vor 250 Jahren wurde Caspar David Friedrich in Greifswald geboren. Der berühmte Künstler hat auch geschrieben, Briefe, Aufsätze, ein paar Gedichte und Gebete, ohne Kunstanspruch. Eine kritische Ausgabe sämtlicher Texte ist gerade einmal angekündigt. Bezeichnend finde ich auch, dass die vielleicht noch lieferbare kommentierte Ausgabe der Briefe (sie erschien 2005) nicht von einem Kunst- oder Literaturwissenschaftler gemacht wurde, sondern von dem bekannten DEFA-Filmregisseur Hermann Zschoche (Sieben Sommersprossen, Und nächstes Jahr am Balaton, Insel der Schwäne, Glück im Hinterhaus etc.).
Aus dieser Briefausgabe ist folgendes Gedicht, das er offenbar im Auftrag einer Briefpartnerin schrieb.
An / die Frau Gehei[m]-Rath [Amalie von] Beulwitz / hoch wohlgebohren / in / Rudolstadt / durch Güte
Ein Wesen wohnt in meinem Innern
Was immer himmel an mich hebt
Hoch über Erd und Weltgetümmel
Nur immer nach dem Lichte strebt.
Mit ganzem Herzen, Seele, Sinn und Leben
Jesum Christum ist ergeben.
_____________
Ein Wollen wohnt in meinem Busen
Was fest mich an der Erde bannt,
Mich fest in Sünden hält gefangen
Nur immer an den Irdschen hangt.
Dann ist mein Thun mein ganzes Leben
Eitel Thorheit eitles Streben.
_____________
So schwank ich zwischen Gut und Bösen
Gleich einem Rohr vom Wind bewegt.
Bald heb ich mich zum Licht empor,
Bald sink ich in des Abgrunds Tiefen;
So wies im Herzen from sich regt
Wie sichs im Busen wild bewegt.
_____________
u s w.
_____________
Sie haben gütige Frau Geheim-Räthin diese Reimerei von mir verlangt. Den drei virtelsten Theil Ihres Wunsches erhalten Sie, das vierte Virtel als das Schlegste vom Schlegsten behalte ich zu rück. Sie werden sich gefälligst mit dem u s w begnügen.
Empfehlen Sie mich dem Herrn Geheim Rath und Ihren Kindern.
Friderich
(1810/11)
Aus: CASPAR DAVID FRIEDRICH. Die Briefe. Herausgegeben und kommentiert von Herrmann Zschoche. Hamburg: Conference Point, 2005, S. 74.

Immerhin gibt es schon eine Auswahl:
Johannes Grave, Petra Kuhlmann-Hodick und Johannes Rößler (Hrsg.): „Caspar David Friedrich – Die Kunst als Mittelpunkt der Welt – Ausgewählte Schriften und Briefe“, C. H. Beck, 192 Seiten, 20 Euro. E-Book: 9,99 Euro.
Nachtrag
In der genannten Auswahlausgabe von C.H. Beck findet sich eine geringfügig bearbeitete Fassung dieses Briefgedichts – mit der vierten Strophe, die er im Brief ausgespart, aber doch aufgehoben hat. Hier ist sie.
Wo ist die Wahl, wo der Wille,
Was Menschen überm Tier erhebt?
Such nicht: Dir sei nicht Kraft geworden.
Vergrab nur nicht das dir vertraute Pfund!
Der führt gewiss ein gottgefällig Leben,
Wer da gebraucht, was ihm gegeben.
Vicent Andrés Estellés
(* 4. September 1924, heute vor 100 Jahren, in Burjassot; † 27. März 1993 in Valencia)
Der Liebende
II
An meines Daseins Neige, gerade
im bittersten, grausamsten Augenblick,
erscheinst du in einem luftigen Kleid,
und ich liebe nur einen Schluck Leben in dir.
Du plauderst, du sagst alltägliche, unbekümmerte Dinge;
und wiederum werde ich heiter wie einst,
jedoch in anderer Weise.
Deine Augen liebe ich, und ich liebe dein Haar,
und ich streichle mit ungelenker Hand deine Brust.
Du, über mir, lächelst und verstehst viel zuviel.
Und jeden meiner Finger hast du einzeln geküßt.
Und du hast jäh
meinen Schmerz erkannt und auch meine Einsamkeit.
Deutsch von Uwe Grüning, aus: Ein Spiel von Spiegeln. Katalanische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Mit 7 Farbzeichnungen und 3 Collagen von Antoni Tàpies. Katalanisch und deutsch. Leipzig: Reclam, 1987, S. 159
L'amant
II
Al capdavall de la meua existència,
just al moment més amarg i cruel,
arribes tu, amb un vestit lleuger,
i estime, en tu, només, un glop de vida.
Parles, i dius coses banals i alegres,
i torne a ser l'home alegre que vaig
ésser un temps, però d'altra manera.
T'estime els ulls i t'estime els cabells,
i amb balba mà t'acaricie el pit.
Tu, dalt, somrius i comprens massa coses.
I m'has besat, un per un, tots els dits.
Tu has comprés, només en un instant,
el meu dolor, la meua soledat.
(1977)
Vicent Andrés Estellés war ein valencianischer Journalist, Schriftsteller und Dichter, der hauptsächlich auf Katalanisch schrieb. Er gilt als großer Erneuerer der zeitgenössischen valencianischen Literatur und als der bedeutendste Dichter der valencianischen Poesie seit Ausiàs March und Joan Roís de Corella. https://de.wikipedia.org/wiki/Vicent_Andrés_Estellés
Dem heutigen Autor hat es die Grammatik zerdeppert, und er hat sie sich andersrum wieder zusammengesetzt.
Edward Estlin Cummings (oder e.e. cummings)
(* 14. Oktober 1894 in Cambridge; Massachusetts; † 3. September 1962, heute vor 62 Jahren, in North Conway, New Hampshire)
may i be gay
like every lark
who lifts his life
from all the dark
who wings his why
beyond because
and sings an if
of day to yes
wär ich so froh
wie eine lerche lebt
die leicht den leib
aus allem dunkel hebt
schwingt ihr warum
weit hinters weil
und singt ein falls
von tag zu ja
Aus: E. E. Cummings: 39 Alphabetisch, ausgewählt und übersetzt von Mirko Bonné. Urs Engeler Editor, 2001 (Sammlung Urs Engeler Editor Band 14), wiederholt als Band 5 in der Reihe der Backlist, Urs Engeler 2020, S. 48 und 75 (Viel Glück beim Suchen – der Anordnung und Seitennummerierung in diesem Buch ist dasselbe passiert wie der Grammatik des Autors.)
Heute zwei zeitgenössischen Wolkengedichte.
Elke Heinemann
Aus: Gewölk
XII
gerade noch eine kleine öffnung ein einstieg ins all noch
nicht aber ein freiraum umrahmt von lockerem grauweiß
das alles andere bedeckt sich dann verschiebt zerfasert
andere freiräume aufdeckt die rasch mehr und mehr raum
nehmen bis lichtes grau aus ihnen selbst hervordringt sich
ausweitet sich aufteilt in riesenflocken rasch so als würde
die zeit vorgespult davonzieht und freiräume hinterläßt
XV
und wenn da nichts ist außer dem tiefblauen blau aber ist
da nichts außer dem tiefblauen blau oder ist da doch et
was außer dem tiefblauen blau diesem allgegenwärtigen
tiefblauen blau das sich vielleicht ein wenig ausdünnt in
der ferne das sich vielleicht ein wenig aufhellt in der ferne
das nicht mehr tiefblau ist in der ferne das ein mittelblaues
blau ist ein hellblaues blau bis es sich dem weiß ergibt
Aus: Sinn und Form 5/2023, S. 617f.
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