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Literatur beeinflusst den Gemütszustand und auch den Körper des Lesers. Die körperlichen Auswirkungen der Lektüre werfen ein neues Licht auf die Mechanismen, die dem Bewusstsein die von den Wörtern geschaffenen Stimuli übermitteln. Die Lektüre von Substantiven, Verben und Adjektiven mit negativem Inhalt (Krieg, Nazismus, foltern, zerstören, infam, tot . . .) und diejenige von Wörtern mit positivem Inhalt (Liebe, Freiheit, lachen, küssen, grossartig . . .) bewirken unterschiedliche Veränderungen der Pupillen, der Pulsfrequenz und der Färbung der Haut. Wörter mit starkem emotionalem Inhalt (die «Tabuwörter») verlangsamen die Lektüre, weil die nervösen Mechanismen ihre Wahrnehmung bremsen. Wenn man den Satz liest: «Der Dichter schrieb die Gedichte mit Tinte» ist die Gehirnaktivität anders als beim ähnlichen, aber sinnlosen Satz: «Der Dichter schrieb mit Butter.» Wenn wir in einem Sportbericht lesen, ein Fussballer habe mit dem rechten Fuss ein Tor erzielt, werden im Gehirn nicht nur die Sprachregionen, sondern auch die für den rechten Fuss zuständigen motorischen Zentren aktiviert, obwohl sich der Fuss nicht bewegt. Wenn wir nach mehrmaliger Lektüre des Fussballberichtes mit dem rechten Fuss einen Ball treten, tun wir es genauer als vorher. Lesen und Zuhören vermitteln den Hirnzentren visuelle oder akustische Signale, die das Bewusstsein als Wörter mit Bedeutung, Sinn, Ton, Rhythmus, Bild und Emotion erreichen. Ein Text ist nur ein Gekritzel, solange er von einem Gehirn nicht gelesen und verstanden wird.
Das Selbstbewusstsein erforscht durch die Poesie jene verborgenen und geheimen Winkel der Seele, die es in der Sprache der Prosa nicht beschreiben könnte. Das Rätsel der Poesie ist nicht nur für Ästhetikforscher und Literaturwissenschafter, sondern auch für Naturwissenschafter nahezu undurchdringlich. Warum stimulieren Wörter, die in einer bestimmten Reihenfolge stehen, das limbische System und einen Teil der vorderen Hirnrinde bis zu jenem Punkt, an dem die unaussprechliche Schönheit der poetischen Kunst erfasst wird, während dieselben Wörter nichts anderes als Bedeutungsträger sind, wenn sie in einer anderen Reihenfolge angeordnet sind? Warum wurde die Poesie erschaffen? Ist sie lediglich eine Zier des Lebens, oder hat sie eine existenzielle Bedeutung? Warum bestehen Verse aus kurzen Textzeilen, und warum bedient sich die Poesie oft des Reims?
/ Arnaldo Benini, NZZ
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