diese sprache existiert nicht

Valzhyna Mort 

(belarussisch Вальжына Морт, Walshyna, Valžyna Mort, geboren 1981 in Minsk)

DIE WEISSRUSSISCHE SPRACHE II

jenseits deiner grenzen, mein land,
beginnt ein geräumiges kinderheim.
und du führst uns dahin, belarus.
vielleicht kamen wir ohne beine zur welt,
vielleicht beten wir zu den falschen göttern,
vielleicht leidest du unseretwegen,
vielleicht sind wir unheilbar krank.
vielleicht hast du nichts uns zu ernähren,
und wir verstehen nicht einmal zu betteln,
vielleicht hast du uns nie gewollt,
aber auch wir konnten dich
anfangs nicht lieben.

deine sprache ist so klein,
daß sie noch kein gespräch führen kann.
und du, belarus, in hysterie,
dir scheint stets,
daß die hebammen die wickel verwechselt haben.
daß du jetzt ein fremdes kind stillen mußt,
eine fremde sprache tränken mit deiner milch?
eine sprache, die blau angelaufen auf der fensterbank liegt,
oder diese sprache oder das grau des vergangenen jahres
oder dieses grau oder nur den schatten eines heiligenbilds
oder diesen schatten oder einfach nichts.

es ist keine sprache,
denn sie hat kein system.
sie ist wie ein plötzlicher, nicht wählerischer tod,
wie ein tod, von dem man nicht sterben kann,
wie ein tod, von dem tote zum leben erwachen.

eine sprache, derentwegen man kinder in die pfanne legt,
eine sprache, derentwegen der bruder den bruder tötet,
eine sprache, vor der niemand sich retten kann,
eine sprache, die männliche krüppel gebiert,
bettlerinnen gebiert,
kopflose tiere gebiert,
kröten mit menschlichen stimmen gebiert.

diese sprache existiert nicht,
sie hat nicht einmal ein system.
ein gespräch mit ihr zu führen ist unmöglich –
sie schlägt einem sofort in die fresse.
selbst an feiertagen
bringst du diese sprache nicht unter die leute,
du schmückst sie mit keinem feuerwerk mehr
oder neonschild.

doch dieses system kann mich
an meinem AKKORDEON
lecken ...

und mein akkordeon
wie es den blasebalg auseinanderzieht –
wie berggipfel –
so ist es, schau, mein akkordeon!
es frißt aus der hand, es leckt und wie ein kind
geht es mir nicht vom schoß,
doch wenn nötig zeigt
es sein tralala!

Deutsch von Katharina Narbutovič, aus: Valžyna Mort: Tränenfabrik. Gedichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2009, S. 74f

Zu Hause sprechen wir nur Russisch. In der vierten Klasse bekommen wir weißrussische Sprache und Literatur als Fach bis zum Schulabschluß und noch ein, zwei Jahre an der Universität. Richtiges Weißrussisch höre ich in der Schule nur im Fach Weißrussische Geschichte. (…)

Anstatt ihren natürlichen Platz als Sprache einzunehmen, will die weißrussische Sprache den Platz der Musik besetzen, die ich niemals zu beherrschen vermochte. Sie wird zur gehorsamen Musik, die einen Schritt, ein Wort, eine Note im voraus weiß, was ich suche; eine Sprache, die hinter der Musik herläuft wie hinter dem Weißen Kaninchen , immer einen Schritt entfernt von dem wunderschönen Fall.

Aus dem Nachwort der Autorin, a.a.O. S. 84-86

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